Die Atomkatastrophe in Japan hat eine neue Dimension erreicht. Bei einer weiteren Explosion im Kernkraftwerk Fukushima wurde am Dienstag nach Regierungsangaben erstmals eine innere Schutzhülle eines Reaktors beschädigt. Die AKW-Betreibergesellschaft Tepco sprach von einer "sehr schlimmen" Lage. Der Wind drehte tagsüber ins Landesinnere Richtung Süden. In der Hauptstadt Tokio wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die japanische Börse reagierte panisch. Die deutsche Atompolitik steht vor dem Umbruch: Sieben alte Meiler sollen vorübergehend vom Netz.
In Japan weitet sich das Chaos in den einzelnen Reaktorblöcken der Anlage Fukushima Eins aus. In Block 2 ließ der gewaltige Druck den Reaktorblock stellenweise bersten. In Block 4 brach zwischenzeitlich ein Feuer aus. Es wurde gelöscht. In der Außenwand des Reaktorgebäudes klaffen zwei acht Quadratmeter große Löcher. Das berichtete die Nachrichtenagentur Jiji Press unter Berufung auf die Nukleare Sicherheitsagentur des Industrieministeriums. Ein Sprecher des AKW-Betreibers teilte mit, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es im Atomkomplex Fukushima Eins zu einer Kernschmelze komme.
Unter dem Eindruck der Katastrophenmeldungen traf Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin mit den fünf Ministerpräsidenten zusammen, in deren Ländern Atomkraftwerke stehen. Sie kündigte an, dass die sieben vor 1980 gebauten Kernkraftwerke vorübergehend abgeschaltet werden. Dies betreffe die drei Monate, in denen die Laufzeitverlängerung ausgesetzt wird.
Über den genauen Zustand der beschädigten Meiler in Fukushima gab es weiter nur unzureichende Angaben. Bei der Explosion in Block 2 um etwa 6.00 Uhr Ortszeit (22.00 Uhr MEZ) sei wahrscheinlich ein Teil des Reaktorbehälters beschädigt worden. Das sagte der Regierungssprecher Yukio Edano während einer vom Fernsehsender NHK am Dienstagmittag (Ortszeit) live übertragenen Pressekonferenz. Die Zahl der Einsatzkräfte in Block 2 sei von bislang 800 auf 50 Experten reduziert worden.
Im Block 1 gab es bereits am Samstag, in Block 3 am Montag eine Wasserstoffexplosion. In beiden Fällen wurde das äußere Gebäude zerstört, der innere Reaktormantel (Containment) sei dort aber unbeschadet geblieben. Es gelte jetzt, die Kühlung aufrechtzuerhalten, sagte Edano. Die Atomkatastrophen sind Folgen des gigantischen Erdbebens und des Tsunamis vom vergangenen Freitag.
In der Umgebung des Katastrophen-AKW stieg die Strahlung zunächst dramatisch, wie ein Regierungssprecher mitteilte. Die Anwohner im Umkreis von 30 Kilometern um Fukushima wurden aufgefordert, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. In drei Präfekturen um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima begannen die Vorbereitungen für die Evakuierung. Die japanische Regierung stellt in einem ersten Schritt rund 265 Millionen Euro als landesweite Notfallhilfe für die Bürger in Katastrophengebieten bereit.
Auch in der 35-Millionen-Metropole Tokio wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die Belastung sei um das 22-Fache höher als üblich, berichtete der Fernsehsender NHK. Viele Bewohner hatten sich aus Angst vor den Folgen des Atomunfalls schon auf den Weg in den weiter entfernten Süden des Landes gemacht.
Die japanische Regierung warnte vor Gesundheitsschäden. In Fukushima versuchten Einsatzkräfte weiterhin mit Meerwasser die außer Kontrolle geratenen Reaktoren zu kühlen, wie ein Regierungssprecher mitteilte.
Über die Brandursache in Block 4 gab es zunächst keine Angaben. Die dort noch lagernden abgebrannten Brennstäbe könnten nicht in Brand geraten, sagte Edano. Block 4 war noch vor dem Erdbeben am Freitag für Wartungsarbeiten vom Netz genommen worden. Während das Feuer in Block 4 gelöscht werden konnte, drohte die Kühlung in dem Meiler auszufallen. Die Brennstäbe könnten das Kühlwasser zum Kochen bringen und verdampfen lassen, teilte die Agentur Kyodo unter Berufung auf den Betreiber Tepco mit.
Das Technische Hilfswerk (THW) brach seinen Einsatz in dem Katastrophengebiet des Erdbebens ab. Rund 100 Stunden nach dem Beben und dem Tsunami gebe es praktisch keine Chancen mehr, dass es in den Katastrophengebieten noch Überlebende gebe, sagte Teamleiter Ulf Langemeier der Nachrichtenagentur dpa im Einsatzlager in Tome.
Ein Erdbeben der Stärke 9,0 und ein folgender Tsunami hatten am Freitag weite Teile des asiatischen Landes verwüstet. Die offizielle Zahl der Toten stand am Dienstag bei 2722, wie Kyodo unter Berufung auf die Polizei meldete. Die Behörden fürchten aber, dass mindestens 10.000 Menschen ihr Leben verloren haben, weil Tausende weiter vermisst werden.
Die radioaktive Strahlung im Umkreis des Unglücks-Kraftwerks erreichte gefährliche Werte. "Wir reden jetzt über eine Strahlendosis, die die menschliche Gesundheit gefährden kann", sagte Regierungssprecher Edano. In einzelnen Bereichen des Kraftwerks wurden nach seinen Angaben 400 Millisievert gemessen - dies übersteigt den Grenzwert der Strahlenbelastung für ein Jahr um das 400-Fache, schrieb Kyodo.
Ministerpräsident Naoto Kan rief die Bevölkerung in den Evakuierungszonen um die beiden Atomkraftwerke von Fukushima eindringlich auf, sich in Sicherheit zu bringen. Die meisten Bewohner hätten diese Aufforderung bereits befolgt, sagte er. Geräumt werden solle ein Umkreis von 20 Kilometern um Fukushima Eins und 10 Kilometer um Fukushima Zwei. In einer Entfernung von 20 bis 30 Kilometern um Fukushima Eins sollen die Einwohner ihre Häuser nicht verlassen.
Die Atomunfälle verursachten an der Börse in Tokio am Dienstag dramatische Kursstürze. Der Nikkei-225-Index rutschte um 10,55 Prozent auf 8605,15 Punkte ab. Das war der größte Kursverlust seit Oktober 2008./sv/DP/wiz1
AXC0125 2011-03-15/12:16