Von Manuel Priego-Thimmel
FRANKFURT (Dow Jones)--Es sind goldene Zeiten für die Pessimisten an den Börsen. Permabär Albert Edwards von der Societe Generale warnt vor einem totalen Zusammenbruch und bekräftigt seine Prognose, dass der S&P-500 auf 550 Punkte fallen wird. Die Strategen der RBS raten dazu, alles zu verkaufen, außer hochqualitativen Anleihen. Finanzguru George Soros sieht Parallelen zu 2008 und JP Morgan empfiehlt den Anlegern, Erholungen an den Börsen zu verkaufen.
Wenn die Geier über den Börsen greisen, ist es häufig eine gute Idee ins Risiko zu gehen. Dazu ist es aber noch zu früh. Auch wenn die Aktienmärkte den schlechtesten Jahresauftakt aller Zeiten hingelegt haben, so ist von Ausverkaufsstimmung unter den professionellen Anlegern noch nichts zu spüren. Und dafür gibt es gute Gründe, denn fundamental stellt sich die Lage bei weitem nicht so schlecht dar wie auf dem Parkett.
Derzeit gibt es keine Anzeichen für eine Abrutschen in die Rezession, weder in Europa, den USA noch in den Schwellenländern. Der kollabierende Ölpreis könnte zwar als Vorlaufindikator für eine solche gewertet werden. Zu viel Vertrauen sollte man indes nicht in die Prognosefähigkeit der Finanzmärkte setzen.
Berühmt ist das Bonmot des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Paul Samuelson, der einmal erklärte, die Börsen hätten neun der vergangenen fünf Rezessionen vorhergesehen. Für den Verfall des Ölpreises gibt es gute Gründe: das nachlassende Wachstum in China, der starke Aufbau von Überkapazitäten in den vergangenen Jahren, Produktivitätssteigerungen und die Rückkehr des Irans an die Märkte.
Wenn China am kommenden Dienstag die BIP-Zahlen für das vierte Quartal sowie Industrieproduktionszahlen für Dezember bekannt gibt, werden diese vermutlich nicht für Begeisterung an den Märkten sorgen. Sie sollten dennoch unterstreichen, dass die Sorgen vor einem Wachstumsabsturz im Reich der Mitte übertrieben sind. Analysten rechnen beim BIP mit einer konstanten Lesung von 6,9 Prozent und bei der Industrieproduktion mit einem leichten Rückgang.
Das bedeutet nicht, dass Anleger nun wieder Aktien kaufen sollten. Zunächst gilt es positive fundamentale Treiber abzuwarten. Diese könnten etwa eine Stabilisierung des Ölpreises sein, ein Nachlassen des Abgabedrucks auf den Offshore-Yuan, bessere Konjunkturdaten aus China oder gute Nachrichten von der gerade in Europa und den USA beginnenden Berichtssaison.
Gegen Engagements an den Börsen spricht auch die gegenwärtig fehlende Unterstützung durch die Zentralbanken. Trotz der Verwerfungen an den Börsen gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass die US-Notenbank von ihrem Zinserhöhungspfad abrücken wird. Beobachter gehen davon aus, dass die Fed die Leitzinsen 2016 drei bis vier Mal anheben wird. Der Markt preist derzeit einen Zinsschritt im März mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 40 Prozent ein.
Auch an die Europäische Zentralbank (EZB) sollten die Anleger keine allzu großen Erwartungen knüpfen. Es ist nicht davon auszugehen, dass EZB-Präsident Mario Draghi am kommenden Donnerstag neue geldpolitische Lockerungsmaßnahmen bekannt geben wird. Zwar liegt die Inflation in der Eurozone noch weit unter dem Zielkorridor der Notenbank. Allerdings hat sich die Wirtschaft in Europa zuletzt erfreulich entwickelt, was den Handlungsdruck verringert.
Hinzu kommt, dass die EZB erst auf ihrer Dezember-Sitzung die Geldpolitik mittels Verlängerung ihres Wertpapierkaufprogramms bis März 2017 gelockert hat. Die Ankündigung sorgte damals für Enttäuschung bei den Anlegern, die zusätzlich auf eine Anhebung der monatlichen Käufen von 60 Milliarden Euro gesetzt hatten. Seitdem wird der sogenannte "Draghi-Put" an den Märkten in Frage gestellt. Seit damals geht es mit den Kursen in Europa auch übergeordnet nach unten.
Die Anleger haben also erst einmal Zeit, dem Treiben an den Börsen zuzuschauen. Und dieses Treiben dürfte zunächst durch hohe Kursschwankungen gekennzeichnet sein. Technisch sind die Börsen aktuell stark überverkauft, Erholungsrallys sind mithin jederzeit möglich. Diesen sollte man aber mit Misstrauen begegnen. Denn das Risiko ist hoch, dass diesen Rallys neue Tiefs folgen werden. Das Momentum ist für Käufe derzeit einfach noch zu negativ.
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January 15, 2016 07:56 ET (12:56 GMT)
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