Von Stefan Lange
BERLIN (Dow Jones)--Führende deutsche Meinungsforscher haben das schlechte Abschneiden von Union und SPD bei der Bundestagswahl relativiert. Es mache aus wahlsoziologischer Sicht keinen Sinn, immer nur die vorherigen Wahlen zu betrachten, erklärte der Chef der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung, am Montag in Berlin. Die Union habe zwar 8 Punkte im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 verloren. Die damals erreichten 41,5 Prozent seien aber völlig untypisch gewesen. Auch die SPD sei schon sehr oft von einer Mehrheit entfernt gewesen, die ausgereicht hätte, den Kanzler zu stellen.
CDU und CSU hätten nicht nur unter der AfD gelitten, sie hätten auch einige Wähler an die FDP verloren, sagte Jung. Außerdem leide die Union von Legislaturperiode zu Legislaturperiode "unter einer überdurchschnittlichen Mortalität" ihrer Wähler, meinte Jung. Gerade die CDU habe überdurchschnittlich viele alte Wähler.
"Keine Schockwahl"
Der Chef von Infratest Dimap, Nico Siegel, äußerte sich ähnlich. Er bezeichnete die 2013er Wahl als "untypische Wahl", sie sei gerade für die Union eine "Ausreißerwahl" gewesen. Es habe sich deshalb bei dieser Wahl weder um eine Schockwahl noch um ein Erdbeben gehandelt, reagierte Siegel auf die Schlagzeilen des Montags. Der größte Stress stehe der AfD bevor. Dies sei meist so, wenn eine kleine Partei mit einer hohen Abgeordnetenzahl in den Bundestag einziehe.
Allensbach-Chefin Renate Köcher machte das Wiederaufflammen der Flüchtlingsdebatte für das starke Abschneiden der AfD verantwortlich. Die erste Hälfte der letzten Legislaturperiode sei ja "unglaublich stabil, nahezu langweilig" gewesen. Dann sei im Spätsommer 2015 die "Schlüsselperiode" gekommen, als weite Teile der Bevölkerung angesichts der Flüchtlingsströme in eine Art "Schockstarre" gefallen seien. Anschließend habe sich die Lage bekanntlich beruhigt.
Für die Union sei der Wahlkampf dann "miserabel gelaufen", die AfD habe gleichzeitig zugelegt, sagte Köcher. Das habe damit zu tun, "dass die Themen von 2015 wieder aktualisiert wurden". Die AfD habe dazu beigetragen, aber alle Parteien hätten sich an der AfD abgearbeitet "und dadurch ist ihr eine Bedeutung zugekommen, die sie in den Monaten vorher gar nicht hatte".
"Rechts wird bleiben"
Die große Begeisterung für SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz nach Bekanntgabe seiner Kandidatur ließ auch Köcher verblüfft zurück. "Ich muss sagen, so etwas habe ich noch nie gesehen", sagte sie, wusste aber auch: "Ein Hype, der in sich zusammensackt, ist natürlich ein Ballast."
Köcher erklärte, sie könne keine Prognose zur künftigen Entwicklung der AfD abgeben. Jung sagte dazu, er glaube nicht, "dass eine rechte Partei dauerhaft aus dem Parteiensystem der Bundesrepublik verschwinden wird". Ob das die AfD sei, könne er nicht sagen.
Forsa-Chef Peter Matuschek lenkte den Blick auf die Wahlbeteiligung. Diese sei zwar höher gewesen als bei der letzten Wahl, aber sie sei mit 75 Prozent in Wahrheit "nicht sehr hoch" und "noch sehr weit" von den Wahlbeteiligungen früherer Jahre entfernt. Außerdem sei das Lager der Nichtwähler vor allem von Menschen geprägt, die der politischen Mitte nahestünden und keineswegs radikal seien. Insofern müsse man sich die Frage stellen, ob man nicht lieber über diese große Gruppe der Nichtwähler reden sollte als über die knapp 13 Prozent AfD-Wähler.
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September 25, 2017 07:00 ET (11:00 GMT)
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