FRANKFURT (Dow Jones)--Die Deutsche Bundesbank hinterfragt die Rolle die so genannten natürlichen Zinses für die Bestimmung des Akkommodationsgrades der Geldpolitik. In ihrem aktuellen Monatsbericht warnt sie davor, dieser nicht messbaren Größe, die in der Argumentation der Europäischen Zentralbank (EZB) eine wichtige Rolle spielt, zu viel Bedeutung beizumessen. Grund sind von ihr identifizierte methodische Schwächen bei der Schätzung des natürlichen Zinses.
Praktisch bedeutet das, dass die Bundesbank die Angemessenheit der EZB-Geldpolitik in Frage stellt. Bei den am Donnerstag stattfindenden Beratungen über die Verlängerung und Reduzierung des EZB-Anleihekaufprogramms dürfte sich Bundesbank-Präsident Jens Weidmann daher erneut für eine rasche Beendigung einsetzen. Volkswirte erwarten überwiegend, dass die EZB zumindest den Ankauf von Staatsanleihen Ende 2018 einstellen wird. Leitzinserhöhungen sind erst für den Zeitraum danach zu erwarten.
Wichtigstes Argument der Befürworter einer anhaltend lockeren EZB-Geldpolitik ist allerdings nicht der natürliche Zins, sondern das niedrige Niveau von Inflation und Inflationserwartungen.
Der natürliche Zins ist in den Worten seines geistigen Vaters Knut Wicksell "jene Rate des Darlehenszinses", bei der der Gütermarkt im Gleichgewicht und das Preisniveau stabil ist. Ihn zu ermitteln und seine Entwicklung zu verstehen ist für Notenbanken von besonderem Interesse, denn sie können über die Änderung der kurzfristigen Nominalzinsen den kurzfristigen Realzins relativ zu seinem Gleichgewichtswert beeinflussen und so auf die Realwirtschaft und Inflationsentwicklung Einfluss nehmen.
Die Bundesbank erklärt das so: "Liegt der Leitzins abzüglich der erwarteten Inflationsrate unterhalb des natürlichen Zinses, steht zu erwarten, dass Haushalte die Möglichkeit relativ günstiger Kredite zur Konsumausweitung nutzen; Unternehmen investieren daraufhin mehr, produzieren dann am Gütermarkt über Potenzial und erhöhen ihre Preise, was zu einem Anstieg der Inflationsrate führt. Liegt der Leitzins abzüglich der Inflationserwartung hingegen höher als der natürliche Zins, wäre eine Kapazitätsunterauslastung und fallende Inflation zu erwarten."
Realzinsen sinken seit den 1980er Jahren
Die inflationsbereinigten kurzfristigen Zinssätze, die möglichst dicht an ihrem Gleichgewichtswert liegen sollten, sind seit den 1980er Jahren rückläufig und pendeln laut Bundesbank für Deutschland seit einiger Zeit um die Marke von 0 Prozent. Allerdings bezweifelt die Bundesbank, dass der natürliche Zins tatsächlich so niedrig ist.
Ihrer Ansicht nach könnte der Rückgang der Realzinsen zum Teil mit der hohen Nachfrage nach Bundesanleihen erklärt werden. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Schätzung des natürlichen Zinses alleine auf den Renditen sicherer Staatsanleihen beruht. Die aber sind unter anderem durch die milliardenschweren Ankäufe, die die Bundesbank im Auftrag der EZB ausführt, nach unten verzerrt.
Laut Bundesbank sollte die Geldpolitik deshalb nicht ausschließlich einen sicheren Zins ins Auge fassen. "Gerade mit Blick auf die Relevanz für den güterwirtschaftlich begründeten Preisdruck ist es auch sinnvoll, Zinssätze auf weiteren Stufen des geldpolitischen Transmissionsprozesses nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Diesbezüglich sind unterschiedliche Maße für Kapitalrenditen ein geeigneter Indikator", schreibt sie in ihrem Monatsbericht.
Rückgang langfristiger Realzinsen passt nicht zu Wachstumserwartungen
Außerdem weist sie darauf hin, dass die langfristigen Wachstumserwartungen weiterhin deutlich höher als die langfristigen Renditen sind, was nicht zusammenpasse. Das lasse zumindest eine vorsichtigere Interpretation des so ermittelten neutralen Zinses angeraten erscheinen. "Insbesondere die zeitliche Dimension, also kurzfristiges Gleichgewicht oder mittel- bis langfristiges Gleichgewicht, sowie der Einbezug von Risikoelementen führen zu durchaus sehr unterschiedlichen Einschätzungen."
Aus geldpolitischer Sicht spreche deshalb manches dafür, dem Konzept des natürlichen Zinses nicht übermäßiges Gewicht zu geben, sondern ihn als einen von zahlreichen geldpolitisch interessanten Indikatoren zu begreifen und sich seiner Grenzen bewusst zu bleiben.
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October 23, 2017 06:38 ET (10:38 GMT)
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