New York (BoerseGo.de) - An der Wall Street überschlugen sich in den vergangenen 24 Stunden die Stimmungen. Als heute Nacht der gestrige Schlussbericht verfasst wurde („Fast wie an Weihnachten“), galt noch das Prinzip Hoffnung, angeregt vom Rettungsprogramm für das US-Finanzsystem. Heute früh sah alles schon wieder ganz anders aus. Inzwischen scheint sich aber das Blatt schon wieder zu wenden.
Das von US-Finanzminister Henry Paulson eingefädelte Rettungspaket für das schwer angeschlagene US-Bankensystem wird seit vergangener Nacht von einer „Palastrevolution“ blockiert. Ausgerechnet „Parteifreunde“ von Präsident George Bush und Finanzminister Henry Paulson stellen sich quer. Einige konservative Politiker stören sich daran, dass damit der Staat massiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreift und möglicherweise den Banken Geschenke macht. Heute machte eine Gruppe konservativer Politiker einen Gegenvorschlag. Der Staat solle auf den von Paulson & Co. angestrebten Ankauf der „toxischen“ Forderungen verzichten. Stattdessen wurde ein Bündel aus Steuererleichterungen und staatlich finanzierter Versicherungsprogramme für immobiliengesicherte Kredite empfohlen. Sowohl Finanzminister Paulson als auch Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Partei erklärten, dass dieses Programm nicht funktionieren kann. Damit entstand eine Pattsituation, die die Wall Street zum Börsenstart tief in den Süden schickte.
Obduktion im Elfenbeinturm?
Auch aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft kam Widerstand. Gleich 166 Professoren der Ökonomie, darunter der Nobelpreisträger Robert Lucas (University of Chicago), erhoben Einspruch. Da das Rettungspaket schwerwiegende Folgen hat, die lange Zeit wirken, müssen man es peinlichst genau und äußerst gründlich überprüfen, warnten die Akademiker. Hoffentlich dachten diese gelehrten Leute nicht gleich an eine Obduktion der US-Wirtschaft. Noch ist sie am Leben.
Unterstützung der Pragmatiker
Pragmatiker setzen sich jedenfalls für das Programm ein, darunter Gary Becker, ebenfalls Nobelpreisträger aus Chicago. Der Ökonom hält den staatlichen Ankauf der angeschlagenen Forderungsbestände der Banken für notwendig und sinnvoll. „Die Intervention der US-Regierung ist gerechtfertigt, weil sie einen kurzfristigen Kollaps des finanziellen Systems vermeidet, der die Weltwirtschaft in eine große Depression treiben könnte“, folgert der erklärte Marktwirtschaftler. Der Wirtschaftsexperte glaubt, dass dadurch dem US-Steuerzahler sogar Gewinne entstehen, weil die Preise der Immobilienforderungen derzeit - wegen der aktuellen Panik - im Durchschnitt zu niedrig bewertet werden. „Das Programm ist absolut notwendig. Es gibt keinen Plan B für diese Situation“, betonte auch Investment-Guru Warren Buffet. Und auch das Wall Street Journal rechnete vor, dass die staatliche Übernahme der „toxischen“ Kredite dem US-Steuerzahlen im Laufe der Zeit enorme Gewinne einbringt, weil sich die Wirtschaft wieder erholt - und damit auch der Wert der beliehenen Immobilien.
Die Dringlichkeit einer schnellen Lösung verdeutlichte auch der Kollaps der Washington Mutual. Die größte Sparkasse der USA war wegen der Hypothekenkrise- und dem daraus folgenden tiefgehenden gegenseitigen Misstrauen der Banken - in den Abgrund gestürzt. Heute Nacht wurde sie von Behörden übernommen und an den Bankriesen JP Morgan Chase zwangsverkauft, jedenfalls die meisten Teile.
Prinzip Hoffnung
Zum Wochenende ringen Bush Administration und Kongress, Republikaner und Demokraten, um eine Kompromisslösung. Das „weiße Haus“ machte auf Optimismus und verkündete, wir rechnen damit, dass ein Rettungspaket bis Montag unter Dach und Fach ist. Man sei sich einig, dass etwas getan werden müsse und streite sich nur noch um die Form der Lösung, hieß es.
Die Wall Street schloss sich dem anscheinend an. Zum Schluss galt jedenfalls wieder das Prinzip Hoffnung. Eine solide Schluss-Rallye glich die zwischenzeitlichen herben Tagesverluste für den breiten Markt wieder aus. Der - für den breiten US-Aktienmarkt repräsentative - S&P 500 gewann 0,34 Prozent auf 1.213 Punkte. Der Dow Jones Industrial Average kletterte 1,10 Prozent auf 11.143 Punkte. Der technologielastige Nasdaq Composite Index bröckelte allerdings 0,15 Prozent auf 2.183 Punkte.
Dow Jones Average: Zeit der Strategen
Von den 30 Blue Chips schlossen immerhin 19 als Gewinner ab.
Tops:
Die Spitzenplätze wurden - wie bereits gestern - von den Banken besetzt, die als Überlebende der Krise zu deren Gewinner werden. Die Finanzriesen können sich jetzt die Filetstücke von den Opfern holen, einschließlich Top-Personal. JP Morgan sprang 11% auf 48,24 Dollar (gestern plus 7%). Die Großbank schluckte heute Nacht wesentliche Teile der zusammengebrochenen Groß-Sparkasse Washington Mutual. Dadurch soll der Gewinn je Aktie in 2009 um mehr als 50 Cent gesteigert werden, hieß es. Zur Finanzierung der Transaktion verkaufte die Bank eigene Aktien im Volumen von 10 Milliarden Dollar. Die Ratingagentur Fitch hät die Übernahme für „strategisch sinnvoll“. Der Broker Fox Pitt verbesserte seine Einschätzung von „Inline“ (etwa: „Neutral“) auf „Outperform“.
Die Bank of America gewann 6,8% auf 36,70 Dollar.
American Express kletterte 4,4% auf 39,50 Dollar. Dort scheint die Angst vor bankrotten Kreditkartenschuldnern abzunehmen
Flops:
Der Flop des Dow war Alcoa mit minus 5,5% auf 23,54 Dollar. Der Aluminiumriese leidet unter rutschenden Aluminiumpreisen, auch wenn das leichte Metall heute seinen freien Fall unterbrach.
General Motors gab 2,7% auf 9,76 Dollar ab. CEO Rick Wagner klagte bereits gestern, dass sich der Absatzeinbruch auch im September fortgesetzt hat
General Electric verlor 1,7% auf 25,25 Dollar. Goldman Sachs schraubte sein Kursziel auf 26 Dollar herunter (vorher: 29 Dollar), bleibt aber bei der Einschätzung „Neutral“. Die Bank bezieht sich dabei auch auf die gestrige Gewinnwarnung der Mischkonzerns. Das Konglomerat hatte - wegen der Bankenkrise - über geringere Einnahmen seines großen Finanzbereichs geklagt. Der Broker Argus kappte den verschachtelten Konzern von „Kaufen“ auf „Halten“ und verwies ebenfalls auf die gestrige Gewinnwarnung. Das Wall Street Journal äußerte sich heute ebenfalls skeptisch. Da der Konzern die Relation zwischen Vermögenspositionen und Verschuldung abbauen will (abnehmender Kredithebel = deleveraging), dürften die Gewinne aus dem Finanzbereich abschmelzen.
S&P 500: „Another One Bites the Dust"
Flops:
Die Fans der Rockgruppe Queen kennen sicherlich deren Funk-Song „Another One Bites the Dust". Daran erinnerte das Wall Street Geschehen im Laufe der heutigen Nacht: Jetzt erwischte es die Großsparkasse Washington Mutual. Das tief in den Hypothekensumpf abgesunkene Kreditinstitut wurde von den Behörden übernommen und an den Bankriesen JP Morgan zwangsverkauft. Fazit für die Aktionäre der Westküstler: Die Aktie implodierte um 90% auf 16 Cents.
Jetzt wird anscheinend die Geschäftsbank Wachovia in Angriff genommen, der Bank-Titel trudelte 27% auf 10 Dollar.
National City, ebenfalls eine Bank, tauchte 26% auf 3,71 Dollar.
Morgan Stanley verlor 8,7% auf 24,65 Dollar. Die Ex-Investmentbank verlor in der vergangenen Woche Einlagen im Gesamtvolumen von mehreren hundert Milliarden Dollar, berichtet die Financial Times. Der Grund: Nach der Pleite von Lehman Brothers ergriffen viele Hedgefonds, die zuvor Kunden waren, die Flucht und wanderten zu Bankkonzernen, denen sie mehr vertrauen. Das erklärt wohl auch die jüngsten Kursgewinne von JP Morgan und der Bank of America.
Tops:
Trotz des Schlamassel gab es einige Lichtblicke. Wells Fargo kletterte 9,4% auf 37,31 Dollar. Das Aktienresearch der geschluckten Investmentbank Merrill Lynch beförderte den Bankkonzern von „Underperform“ auf „Neutral“. Das Kredithaus dürfte als Gewinner aus der aktuellen Krise hervorgehen, weil es über eine starke Kapitalbasis verfügt und kräftig wachsende Einnahmen erzielt. Daher dürften die Kalifornier von der Flucht in die Qualität profitieren, hieß es.
American International Group (AIG) verbesserte sich 4,3% auf 3,15 Dollar. Gestern fiel das Papier allerdings noch um 9%. Der kriselnde Versicherungskonzern, war am Montag wegen seines Wertverfalls aus dem Dow Jones abgestiegen. Vielleicht griffen einige Schnäpchenjäger zu.
Nike gewann 4,3% auf 67,69 Dollar. Gestern war das Konsumpapier schon um knapp 10% gestiegen. Der Sportartikel-Gigant hatte bereits am Mittwoch die Gewinnerwartungen geschlagen. Besonders beeindruckte, dass sogar die Aufträge aus den USA um 3 Prozent gestiegen sind.
Urban Outfitters verteuerten sich 1,9% auf 34,94 Dollar. Der Broker RBC Capital Markets begann die Beobachtung mit der Einschätzung „Outperform“ und Kursziel 41 Dollar. Die angesagte Textilkette verfüge über ein einzigartiges Verkaufskonzept und wachse daher überdurchschnittlich schnell. Der Broker Jefferies & Co begnügte sich dagegen mit „Halten“ und Kursziel 33 Dollar.
Nasdaq: Ein Unglück kommt selten alleine
Da ein Unglück selten alleine kommt, musste der Technologiesektor - und damit auch die Nasdaq- neben dem finanzpolitischen Tohuwabohu auch noch das Desaster bei Research in Motion verkraften. Der Nasdaqwert implodierte um 27,5% auf 70,76 Dollar. Der Smartphonehersteller, eine Ikone der Telekommunikationselektronik, verpasste gestern nach Börsenschluss die Gewinnerwartung der Wall Street und enttäuschte beim Ausblick. Dazu trugen auch schwächere Gewinnmargen dank höherer Kosten für die Komponenten (Chips) und der scharfe Wettbewerb mit Apple (iPhone) bei. Die Wall Street reagierte vor allem wegen den sinkenden Margen der Kanadier schockiert.
Die Reaktion der Analysten fiel heute durchwachsen aus.
Herabstufungen: Die Citigroup wertete den Technologie-Titel von „Kaufen“ auf „Halten“ ab. Dort warnte man vor dem schärferen Wettbewerb, der nicht nur die Preise verderbe, sondern auch höhere Ausgaben für Werbung erfordere.
Die Deutsche Bank degradierte den Nasdaqwert von „Halten“ auf „Verkaufen“. Das Kursziel schmolz von 120 Dollar auf 70 Dollar. Dort wurde auch auf das verlangsamte Wachstum der Umsätze verwiesen.
RBC Capital Markets korrigierte von „Outperform“ auf „Sector Perform“.
Pacific Crest ging von „Outperform“ auf „Sector Perform“
Drastisch ging Canaccord Adams vor. Der Broker änderte von „Kaufen“ auf „Halten“ und dampfte das Kursziel auf 72,75 Dollar ein (vorher: 185 Dollar).
Heraufstufungen: Die Credit Suisse beförderte die Kanadier von „Underperform“ auf „Neutral“, schraubte aber das Kursziel von 100 Dollar auf 80 Dollar herunter. Die Schweizer befürchten, dass die Gewinnschätzungen der Wall Street wegen schwächerer Gewinnmargen zurückgehen. Es sei daher noch zu früh zu kaufen.
Der Broker Raymond James wertete den Smartphone-Titel von „Market Perform“ auf „Outperform“ auf.
Das Aktienresearch von Standard & Poor`s ging von „Halten“ auf „Kaufen“, korrigierte aber das Kursziel von 130 Dollar auf 110 Dollar.
Der Rivale Apple wurde für die Kandaier in Sippenhaft genommen und verlor 2,8% auf 128,94 Dollar.
Motorola sank 3% auf 7,63 Dollar. Der Handyhersteller, der gegenüber Nokia und anderen ins Hintertreffen geraten ist, wurde bei der Citigroup von „Kaufen“ auf „Halten“ abgewertet.
Zu den Lichtblicken zählte dagegen Jabil Circuit mit plus 2,8% auf 10,99 Dollar. Der Konzern, der im Auftrag anderer Unternehmen elektronische Geräte herstellt (Kontrakthersteller) konnte - dank geringerer Kosten für die Restrukturierung - seinen Gewinn fast verfünffachen und schnitt damit besser ab als erhofft.
Gefragt war auch Intel, die gestern noch zu den Verlierern zählte. Heute gab es ein Plus von 3,4% auf 19,20 Dollar. Der Philadelphia Semiconductor Sector Index, der 19 Halbleiter-Titel erfasst, gewann 0,5% auf 321 Punkte.
Ordentlich schnitt auch der Softwarebereich ab. Microsoft gewann 2,9% auf 27,40 Dollar. Gestern gab es ein Plus von 3,5%. Seit Tagen beflügelt dort ein sattes Aktienrückkaufsprogramm.
Tibco Software sprang 6,9% auf 7,26 Dollar. Der Spezialist für Unternehmenssoftware hat seinen Quartals-Gewinn mehr als verdoppelt und damit die Erwartungen der Wall Street geschlagen.
Internet: Wird jetzt auch an der Braut gespart?
Bei den an der Nasdaq notierten Flaggschiffe des Internets drückten vorwiegend Sorgen über das Auslandsgeschäft wegen der Dollarstärke und der Konjunkturschwäche in Europa.
Google verlor 1,9% auf 431,04 Dollar. Der Broker RBC Capital sieht konjunkturellen Gegenwind in Europa.
Yahoo sank 1,5% auf 18,92 Dollar. Der Broker Collins Stewart befürchtet, dass sich die fundamentalen Bedingungen bei dem Portalbetreiberr weiter verschlechtern. Der Broker bekräftigte die Empfehlung „Halten“ und Kursziel 21 Dollar.
Baidu.com, Chinas Marktführer bei den Suchmaschinen, rutschte 5,4% auf 260,75 Dollar. Der Dienstleister steht seit Tagen unter dem Beschuss der Leerverkäufer, die eine Verbindung zum chinesischen Milchskandal herstellen wollen. Die Manipulanten bezichtigen das in Peking ansässige Unternehmen, seine Suchmaschinen unterdrückten Nachrichten zum Milchskandal.
Amazon.com gab 1,9% auf 70,70 Dollar. Seit Wochen kürzen die Broker bei dem E-Commerce-Pionier die Gewinnschätzungen. Der Grund: Der gestärkte Dollar verringert die Auslandseinnahmen in US-Währung umgerechnet. Jetzt ist das auch dem Broker Lazard Capital aufgefallen. Für das laufende Geschäftsjahr erwartet er nur noch einen Gewinn von 1,55 Dollar je Aktie (vorher: 1,58 Dollar), für 2009 2,15 Dollar (vorher: 2,18 Dollar). Der Broker sieht außerdem noch die Gefahr, dass der E-Commerce in den USA wegen des verschlechterten „Konsumentenumfelds“ langsamer wächst.
Blue Nile verbilligte sich 6,9% auf 43,06 Dollar. Der Broker Stifel Nicolaus degradierte den Online-Juwelier von „Kaufen“ auf „Halten“. Wie üblich wurde das „schwierige gesamtwirtschaftliche Umfeld“ als Begründung herangezogen. Davon sei auch der Luxusbereich betroffen, hieß es. Die Verbraucher würden statt teure Diamantringe jetzt billigere kaufen, glaubt Stifel Nicolaus.
Der Rivale Ebay lebt zwar in selben Universum gewann aber heute 0,9% auf 22,57 Dollar. Die Citigroup beobachtet allerdings, dass große Onlineverkäufer mit dem Autkionator unzufrieden und daher abwandern, vor allem zum Konkurrenten Amazon.com, der sich zunehmend auch als Verkaufsplattform für Dritte anbietet.
Öl: Nachfragerückgang drückt Crude-Preis
Der Crude-Kontrakt für November verbilligte sich heute an der New York Mercantile Exchange um 1,13 Dollar auf 106,89 Dollar, berichtet MarketWatch. Bereits am Mittwoch war gemeldet worden, dass die US-Nachfrage wegen des überhöhten Preises in den vergangenen vier Wochen um gut 5% gegenüber dem Vorjahr zurückging.
Gold: Rettung vor dem Rettungspaket?
Der Gold-Kontrakt für Dezember gewann heute 6,50 Dollar auf 888,50 Dollar, berichtet MarketWatch. Die Anleger hätten sich wegen des US-Rettungspakets einen sicheren Hafen gesucht, erklärt der Infodienst.
Ausblick:
Montag:
14:30 Uhr Einkommen und Ausgaben (Konsum) privater Haushalte vom August
Quartalszahlen: Circuit City (Elektronik-Discounter), Walgreen (Drogeriekette)
Dienstag:
15.45 Uhr Chicago Einkaufsmanager-Index (Industrieentwicklung im Ballungsgebiet) vom September
Mittwoch:
16:00 Uhr Einkaufsmanager-Index (Industrieentwicklung USA) vom September plus Bauausgaben vom August, 16:35 Uhr Ölvorräte der Vorwoche
Quartalszahlen: Micron (Speicher-Chips)
Donnerstag:
14:30 Uhr Arbeitslosenmeldungen der Vorwoche, 16:00 Uhr Auftragseingänge der Industrie vom August
Quartalszahlen: Marriott (Hotelkette), Constellation Brands (Spirituosen)
Freitag:
14:30 Uhr Arbeitsmarktdaten (neue Arbeitsplätze, Arbeitslosenrate) vom September, 16:00 Einkaufsmanager-Index Dienstleistungen vom September
Das von US-Finanzminister Henry Paulson eingefädelte Rettungspaket für das schwer angeschlagene US-Bankensystem wird seit vergangener Nacht von einer „Palastrevolution“ blockiert. Ausgerechnet „Parteifreunde“ von Präsident George Bush und Finanzminister Henry Paulson stellen sich quer. Einige konservative Politiker stören sich daran, dass damit der Staat massiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreift und möglicherweise den Banken Geschenke macht. Heute machte eine Gruppe konservativer Politiker einen Gegenvorschlag. Der Staat solle auf den von Paulson & Co. angestrebten Ankauf der „toxischen“ Forderungen verzichten. Stattdessen wurde ein Bündel aus Steuererleichterungen und staatlich finanzierter Versicherungsprogramme für immobiliengesicherte Kredite empfohlen. Sowohl Finanzminister Paulson als auch Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Partei erklärten, dass dieses Programm nicht funktionieren kann. Damit entstand eine Pattsituation, die die Wall Street zum Börsenstart tief in den Süden schickte.
Obduktion im Elfenbeinturm?
Auch aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft kam Widerstand. Gleich 166 Professoren der Ökonomie, darunter der Nobelpreisträger Robert Lucas (University of Chicago), erhoben Einspruch. Da das Rettungspaket schwerwiegende Folgen hat, die lange Zeit wirken, müssen man es peinlichst genau und äußerst gründlich überprüfen, warnten die Akademiker. Hoffentlich dachten diese gelehrten Leute nicht gleich an eine Obduktion der US-Wirtschaft. Noch ist sie am Leben.
Unterstützung der Pragmatiker
Pragmatiker setzen sich jedenfalls für das Programm ein, darunter Gary Becker, ebenfalls Nobelpreisträger aus Chicago. Der Ökonom hält den staatlichen Ankauf der angeschlagenen Forderungsbestände der Banken für notwendig und sinnvoll. „Die Intervention der US-Regierung ist gerechtfertigt, weil sie einen kurzfristigen Kollaps des finanziellen Systems vermeidet, der die Weltwirtschaft in eine große Depression treiben könnte“, folgert der erklärte Marktwirtschaftler. Der Wirtschaftsexperte glaubt, dass dadurch dem US-Steuerzahler sogar Gewinne entstehen, weil die Preise der Immobilienforderungen derzeit - wegen der aktuellen Panik - im Durchschnitt zu niedrig bewertet werden. „Das Programm ist absolut notwendig. Es gibt keinen Plan B für diese Situation“, betonte auch Investment-Guru Warren Buffet. Und auch das Wall Street Journal rechnete vor, dass die staatliche Übernahme der „toxischen“ Kredite dem US-Steuerzahlen im Laufe der Zeit enorme Gewinne einbringt, weil sich die Wirtschaft wieder erholt - und damit auch der Wert der beliehenen Immobilien.
Die Dringlichkeit einer schnellen Lösung verdeutlichte auch der Kollaps der Washington Mutual. Die größte Sparkasse der USA war wegen der Hypothekenkrise- und dem daraus folgenden tiefgehenden gegenseitigen Misstrauen der Banken - in den Abgrund gestürzt. Heute Nacht wurde sie von Behörden übernommen und an den Bankriesen JP Morgan Chase zwangsverkauft, jedenfalls die meisten Teile.
Prinzip Hoffnung
Zum Wochenende ringen Bush Administration und Kongress, Republikaner und Demokraten, um eine Kompromisslösung. Das „weiße Haus“ machte auf Optimismus und verkündete, wir rechnen damit, dass ein Rettungspaket bis Montag unter Dach und Fach ist. Man sei sich einig, dass etwas getan werden müsse und streite sich nur noch um die Form der Lösung, hieß es.
Die Wall Street schloss sich dem anscheinend an. Zum Schluss galt jedenfalls wieder das Prinzip Hoffnung. Eine solide Schluss-Rallye glich die zwischenzeitlichen herben Tagesverluste für den breiten Markt wieder aus. Der - für den breiten US-Aktienmarkt repräsentative - S&P 500 gewann 0,34 Prozent auf 1.213 Punkte. Der Dow Jones Industrial Average kletterte 1,10 Prozent auf 11.143 Punkte. Der technologielastige Nasdaq Composite Index bröckelte allerdings 0,15 Prozent auf 2.183 Punkte.
Dow Jones Average: Zeit der Strategen
Von den 30 Blue Chips schlossen immerhin 19 als Gewinner ab.
Tops:
Die Spitzenplätze wurden - wie bereits gestern - von den Banken besetzt, die als Überlebende der Krise zu deren Gewinner werden. Die Finanzriesen können sich jetzt die Filetstücke von den Opfern holen, einschließlich Top-Personal. JP Morgan sprang 11% auf 48,24 Dollar (gestern plus 7%). Die Großbank schluckte heute Nacht wesentliche Teile der zusammengebrochenen Groß-Sparkasse Washington Mutual. Dadurch soll der Gewinn je Aktie in 2009 um mehr als 50 Cent gesteigert werden, hieß es. Zur Finanzierung der Transaktion verkaufte die Bank eigene Aktien im Volumen von 10 Milliarden Dollar. Die Ratingagentur Fitch hät die Übernahme für „strategisch sinnvoll“. Der Broker Fox Pitt verbesserte seine Einschätzung von „Inline“ (etwa: „Neutral“) auf „Outperform“.
Die Bank of America gewann 6,8% auf 36,70 Dollar.
American Express kletterte 4,4% auf 39,50 Dollar. Dort scheint die Angst vor bankrotten Kreditkartenschuldnern abzunehmen
Flops:
Der Flop des Dow war Alcoa mit minus 5,5% auf 23,54 Dollar. Der Aluminiumriese leidet unter rutschenden Aluminiumpreisen, auch wenn das leichte Metall heute seinen freien Fall unterbrach.
General Motors gab 2,7% auf 9,76 Dollar ab. CEO Rick Wagner klagte bereits gestern, dass sich der Absatzeinbruch auch im September fortgesetzt hat
General Electric verlor 1,7% auf 25,25 Dollar. Goldman Sachs schraubte sein Kursziel auf 26 Dollar herunter (vorher: 29 Dollar), bleibt aber bei der Einschätzung „Neutral“. Die Bank bezieht sich dabei auch auf die gestrige Gewinnwarnung der Mischkonzerns. Das Konglomerat hatte - wegen der Bankenkrise - über geringere Einnahmen seines großen Finanzbereichs geklagt. Der Broker Argus kappte den verschachtelten Konzern von „Kaufen“ auf „Halten“ und verwies ebenfalls auf die gestrige Gewinnwarnung. Das Wall Street Journal äußerte sich heute ebenfalls skeptisch. Da der Konzern die Relation zwischen Vermögenspositionen und Verschuldung abbauen will (abnehmender Kredithebel = deleveraging), dürften die Gewinne aus dem Finanzbereich abschmelzen.
S&P 500: „Another One Bites the Dust"
Flops:
Die Fans der Rockgruppe Queen kennen sicherlich deren Funk-Song „Another One Bites the Dust". Daran erinnerte das Wall Street Geschehen im Laufe der heutigen Nacht: Jetzt erwischte es die Großsparkasse Washington Mutual. Das tief in den Hypothekensumpf abgesunkene Kreditinstitut wurde von den Behörden übernommen und an den Bankriesen JP Morgan zwangsverkauft. Fazit für die Aktionäre der Westküstler: Die Aktie implodierte um 90% auf 16 Cents.
Jetzt wird anscheinend die Geschäftsbank Wachovia in Angriff genommen, der Bank-Titel trudelte 27% auf 10 Dollar.
National City, ebenfalls eine Bank, tauchte 26% auf 3,71 Dollar.
Morgan Stanley verlor 8,7% auf 24,65 Dollar. Die Ex-Investmentbank verlor in der vergangenen Woche Einlagen im Gesamtvolumen von mehreren hundert Milliarden Dollar, berichtet die Financial Times. Der Grund: Nach der Pleite von Lehman Brothers ergriffen viele Hedgefonds, die zuvor Kunden waren, die Flucht und wanderten zu Bankkonzernen, denen sie mehr vertrauen. Das erklärt wohl auch die jüngsten Kursgewinne von JP Morgan und der Bank of America.
Tops:
Trotz des Schlamassel gab es einige Lichtblicke. Wells Fargo kletterte 9,4% auf 37,31 Dollar. Das Aktienresearch der geschluckten Investmentbank Merrill Lynch beförderte den Bankkonzern von „Underperform“ auf „Neutral“. Das Kredithaus dürfte als Gewinner aus der aktuellen Krise hervorgehen, weil es über eine starke Kapitalbasis verfügt und kräftig wachsende Einnahmen erzielt. Daher dürften die Kalifornier von der Flucht in die Qualität profitieren, hieß es.
American International Group (AIG) verbesserte sich 4,3% auf 3,15 Dollar. Gestern fiel das Papier allerdings noch um 9%. Der kriselnde Versicherungskonzern, war am Montag wegen seines Wertverfalls aus dem Dow Jones abgestiegen. Vielleicht griffen einige Schnäpchenjäger zu.
Nike gewann 4,3% auf 67,69 Dollar. Gestern war das Konsumpapier schon um knapp 10% gestiegen. Der Sportartikel-Gigant hatte bereits am Mittwoch die Gewinnerwartungen geschlagen. Besonders beeindruckte, dass sogar die Aufträge aus den USA um 3 Prozent gestiegen sind.
Urban Outfitters verteuerten sich 1,9% auf 34,94 Dollar. Der Broker RBC Capital Markets begann die Beobachtung mit der Einschätzung „Outperform“ und Kursziel 41 Dollar. Die angesagte Textilkette verfüge über ein einzigartiges Verkaufskonzept und wachse daher überdurchschnittlich schnell. Der Broker Jefferies & Co begnügte sich dagegen mit „Halten“ und Kursziel 33 Dollar.
Nasdaq: Ein Unglück kommt selten alleine
Da ein Unglück selten alleine kommt, musste der Technologiesektor - und damit auch die Nasdaq- neben dem finanzpolitischen Tohuwabohu auch noch das Desaster bei Research in Motion verkraften. Der Nasdaqwert implodierte um 27,5% auf 70,76 Dollar. Der Smartphonehersteller, eine Ikone der Telekommunikationselektronik, verpasste gestern nach Börsenschluss die Gewinnerwartung der Wall Street und enttäuschte beim Ausblick. Dazu trugen auch schwächere Gewinnmargen dank höherer Kosten für die Komponenten (Chips) und der scharfe Wettbewerb mit Apple (iPhone) bei. Die Wall Street reagierte vor allem wegen den sinkenden Margen der Kanadier schockiert.
Die Reaktion der Analysten fiel heute durchwachsen aus.
Herabstufungen: Die Citigroup wertete den Technologie-Titel von „Kaufen“ auf „Halten“ ab. Dort warnte man vor dem schärferen Wettbewerb, der nicht nur die Preise verderbe, sondern auch höhere Ausgaben für Werbung erfordere.
Die Deutsche Bank degradierte den Nasdaqwert von „Halten“ auf „Verkaufen“. Das Kursziel schmolz von 120 Dollar auf 70 Dollar. Dort wurde auch auf das verlangsamte Wachstum der Umsätze verwiesen.
RBC Capital Markets korrigierte von „Outperform“ auf „Sector Perform“.
Pacific Crest ging von „Outperform“ auf „Sector Perform“
Drastisch ging Canaccord Adams vor. Der Broker änderte von „Kaufen“ auf „Halten“ und dampfte das Kursziel auf 72,75 Dollar ein (vorher: 185 Dollar).
Heraufstufungen: Die Credit Suisse beförderte die Kanadier von „Underperform“ auf „Neutral“, schraubte aber das Kursziel von 100 Dollar auf 80 Dollar herunter. Die Schweizer befürchten, dass die Gewinnschätzungen der Wall Street wegen schwächerer Gewinnmargen zurückgehen. Es sei daher noch zu früh zu kaufen.
Der Broker Raymond James wertete den Smartphone-Titel von „Market Perform“ auf „Outperform“ auf.
Das Aktienresearch von Standard & Poor`s ging von „Halten“ auf „Kaufen“, korrigierte aber das Kursziel von 130 Dollar auf 110 Dollar.
Der Rivale Apple wurde für die Kandaier in Sippenhaft genommen und verlor 2,8% auf 128,94 Dollar.
Motorola sank 3% auf 7,63 Dollar. Der Handyhersteller, der gegenüber Nokia und anderen ins Hintertreffen geraten ist, wurde bei der Citigroup von „Kaufen“ auf „Halten“ abgewertet.
Zu den Lichtblicken zählte dagegen Jabil Circuit mit plus 2,8% auf 10,99 Dollar. Der Konzern, der im Auftrag anderer Unternehmen elektronische Geräte herstellt (Kontrakthersteller) konnte - dank geringerer Kosten für die Restrukturierung - seinen Gewinn fast verfünffachen und schnitt damit besser ab als erhofft.
Gefragt war auch Intel, die gestern noch zu den Verlierern zählte. Heute gab es ein Plus von 3,4% auf 19,20 Dollar. Der Philadelphia Semiconductor Sector Index, der 19 Halbleiter-Titel erfasst, gewann 0,5% auf 321 Punkte.
Ordentlich schnitt auch der Softwarebereich ab. Microsoft gewann 2,9% auf 27,40 Dollar. Gestern gab es ein Plus von 3,5%. Seit Tagen beflügelt dort ein sattes Aktienrückkaufsprogramm.
Tibco Software sprang 6,9% auf 7,26 Dollar. Der Spezialist für Unternehmenssoftware hat seinen Quartals-Gewinn mehr als verdoppelt und damit die Erwartungen der Wall Street geschlagen.
Internet: Wird jetzt auch an der Braut gespart?
Bei den an der Nasdaq notierten Flaggschiffe des Internets drückten vorwiegend Sorgen über das Auslandsgeschäft wegen der Dollarstärke und der Konjunkturschwäche in Europa.
Google verlor 1,9% auf 431,04 Dollar. Der Broker RBC Capital sieht konjunkturellen Gegenwind in Europa.
Yahoo sank 1,5% auf 18,92 Dollar. Der Broker Collins Stewart befürchtet, dass sich die fundamentalen Bedingungen bei dem Portalbetreiberr weiter verschlechtern. Der Broker bekräftigte die Empfehlung „Halten“ und Kursziel 21 Dollar.
Baidu.com, Chinas Marktführer bei den Suchmaschinen, rutschte 5,4% auf 260,75 Dollar. Der Dienstleister steht seit Tagen unter dem Beschuss der Leerverkäufer, die eine Verbindung zum chinesischen Milchskandal herstellen wollen. Die Manipulanten bezichtigen das in Peking ansässige Unternehmen, seine Suchmaschinen unterdrückten Nachrichten zum Milchskandal.
Amazon.com gab 1,9% auf 70,70 Dollar. Seit Wochen kürzen die Broker bei dem E-Commerce-Pionier die Gewinnschätzungen. Der Grund: Der gestärkte Dollar verringert die Auslandseinnahmen in US-Währung umgerechnet. Jetzt ist das auch dem Broker Lazard Capital aufgefallen. Für das laufende Geschäftsjahr erwartet er nur noch einen Gewinn von 1,55 Dollar je Aktie (vorher: 1,58 Dollar), für 2009 2,15 Dollar (vorher: 2,18 Dollar). Der Broker sieht außerdem noch die Gefahr, dass der E-Commerce in den USA wegen des verschlechterten „Konsumentenumfelds“ langsamer wächst.
Blue Nile verbilligte sich 6,9% auf 43,06 Dollar. Der Broker Stifel Nicolaus degradierte den Online-Juwelier von „Kaufen“ auf „Halten“. Wie üblich wurde das „schwierige gesamtwirtschaftliche Umfeld“ als Begründung herangezogen. Davon sei auch der Luxusbereich betroffen, hieß es. Die Verbraucher würden statt teure Diamantringe jetzt billigere kaufen, glaubt Stifel Nicolaus.
Der Rivale Ebay lebt zwar in selben Universum gewann aber heute 0,9% auf 22,57 Dollar. Die Citigroup beobachtet allerdings, dass große Onlineverkäufer mit dem Autkionator unzufrieden und daher abwandern, vor allem zum Konkurrenten Amazon.com, der sich zunehmend auch als Verkaufsplattform für Dritte anbietet.
Öl: Nachfragerückgang drückt Crude-Preis
Der Crude-Kontrakt für November verbilligte sich heute an der New York Mercantile Exchange um 1,13 Dollar auf 106,89 Dollar, berichtet MarketWatch. Bereits am Mittwoch war gemeldet worden, dass die US-Nachfrage wegen des überhöhten Preises in den vergangenen vier Wochen um gut 5% gegenüber dem Vorjahr zurückging.
Gold: Rettung vor dem Rettungspaket?
Der Gold-Kontrakt für Dezember gewann heute 6,50 Dollar auf 888,50 Dollar, berichtet MarketWatch. Die Anleger hätten sich wegen des US-Rettungspakets einen sicheren Hafen gesucht, erklärt der Infodienst.
Ausblick:
Montag:
14:30 Uhr Einkommen und Ausgaben (Konsum) privater Haushalte vom August
Quartalszahlen: Circuit City (Elektronik-Discounter), Walgreen (Drogeriekette)
Dienstag:
15.45 Uhr Chicago Einkaufsmanager-Index (Industrieentwicklung im Ballungsgebiet) vom September
Mittwoch:
16:00 Uhr Einkaufsmanager-Index (Industrieentwicklung USA) vom September plus Bauausgaben vom August, 16:35 Uhr Ölvorräte der Vorwoche
Quartalszahlen: Micron (Speicher-Chips)
Donnerstag:
14:30 Uhr Arbeitslosenmeldungen der Vorwoche, 16:00 Uhr Auftragseingänge der Industrie vom August
Quartalszahlen: Marriott (Hotelkette), Constellation Brands (Spirituosen)
Freitag:
14:30 Uhr Arbeitsmarktdaten (neue Arbeitsplätze, Arbeitslosenrate) vom September, 16:00 Einkaufsmanager-Index Dienstleistungen vom September
(© BörseGo AG 2007 - http://www.boerse-go.de, Autor: Maier Gerhard, Redakteur)