Blick auf die Börse von Oliver Roth*
23. Juli 2009. Oliver Roth, Chefhändler bei der Close Brothers Seydler Bank, befasst sich in seinem Marktkommentar mit den Börsen, die als Lokomotive den Wirtschaftszug in Fahrt bringen könnten.
Die Börsen sind bekanntermaßen auch ein Frühindikator für die Wirtschaft. Sie bündeln in normalen Zeiten das Wissen und die Erwartungen der Anleger und lassen somit eine zukünftige wirtschaftliche Entwicklung vorausahnen. Aber sind das normale Zeiten? Sicherlich nicht. Die Aktienmärkte haben sich schon seit einigen Monaten von der realwirtschaftlichen Entwicklung losgelöst. Und es gibt eine große Wahrscheinlichkeit, dass dies erstmal so bleiben wird. Vielleicht werden sogar in dieser Krise die Börsekurse der Wirtschaft wieder auf die Füße helfen und nicht umgekehrt. Denn die Aktienbörsen scheinen diesmal der Wirtschaft soweit voraus zu eilen, das man dieses Phänomen der steigenden Börsenpreise auch als Lokomotive für die Wirtschaft begreifen könnte.
Unsere Wirtschaft liegt am Boden. Alleine innerhalb des letzten Jahres schrumpften wichtige Industriezweige um 30 bis 40 Prozent. 3,5 Millionen Menschen sind aktuell Arbeitslos und weitere Millionen stehen wahrscheinlich bald ohne Job da. Bis 2011 wird mit fünf Millionen Arbeitslosen gerechnet. Der negative Trend ist noch nicht zu Ende und viele Experten erwarten, dass uns das Schlimmste noch bevor steht. Deutschlands Staatsverschuldung steigt in Rekord Zeit und voraussichtlich beträgt das Haushaltsdefizit bis 2013 500 Milliarden Euro. Viele Insolvenzen und dadurch steigende Kreditausfälle werden Unternehmen und Banken in noch unbekanntem Maß belasten. Unsere Wirtschaft wird nach aktuellen Berechnungen voraussichtlich bis zum Jahre 2014 brauchen, bis man das Vorkrisenniveau wieder erreicht hat. In den Jahren die vor uns liegen werden wir kleinere Brötchen backen müssen. Das Ende des freien Falls ist erkennbar, aber der Wiederaufstieg wird wohl lange Zeit in Anspruch nehmen. Diese Aussichten versprechen keine guten Börsen.
Aber was wäre, wenn diesmal alles anders kommt. Wenn nämlich diesmal die Börsen die Wirtschaft aus dem Dreck ziehen, in dem die Kurse weiter steigen. Der Grund dafür könnte viel billiges Geld sein. Viele Investoren wechselten in der Krise das Pferd und legten ihr Geld in sicheren Staatsanleihen oder auch in Rohstoffmärkten an. Dieses Geld fließt früher oder später wieder zurück in die Aktienmärkte, denen man wohl in Zukunft höhere Renditen zutraut. Die Anleger scharren unruhig mit den Hufen, denn sie wollen den richtigen Zeitpunkt für den Einstieg nicht verpassen. Dadurch steigende Börsenkurse könnten die Banken und Unternehmen in ihren Bilanzen extrem entlasten. Diese zusätzlichen Spielräume wären dann weiterer Treibstoff für die Märkte und der Beginn einer längeren Haussephase für die Aktienmärkte und das zunächst völlig losgelöst von der Realwirtschaft. Noch einmal. Initiiert würde diese Hausse nicht durch stabiles wirtschaftliches Wachstum, sondern schlicht und ergreifend durch hohe Liquidität die angelegt werden müsste. Dazu kommt noch das Geld von den Notenbanken das sich seit Monaten in den Banken staut. Dieses Geld wird eines Tages in den realen Wirtschaftskreislauf fließen. Ausgelöst werden könnte das zum einen durch eine Stabilisierung der US-Häuserpreise und damit einer Entspannung der Preise für "Faule Wertpapiere" oder eben aber durch starke Börsen, die die Bilanzen entlasten und Mittel freigeben. Diese hohe Liquidität würde im Anschluss auch der Wirtschaft helfen, denn Kredite werden wieder erhältlich sein und das Investitionsvolumen würde deutlich steigen. Die Börsen würden in diesem Szenario nicht nur als Frühindikator fungieren, sondern wären viel mehr die Lokomotive, die den Wirtschaftszug in Fahrt bringt.
Dass dieser Fall eintritt hat aktuell eine Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent. Es wird sich in den nächsten Wochen entscheiden, ob und wann die institutionellen Investoren geballt in den Markt zukehren. Vor Rückschlägen sind wir allerdings nicht gefeit. Denn der Preis, den wir für diese Entwicklung zu zahlen hätten, wäre eine extrem hohe Inflation. Die damit entstehenden Risiken wären auch ein Erbe der Börsen Hausse.
© 23. Juli 2009/Oliver Roth
* Oliver Roth ist Chefhändler und Börsenstratege der Close Brothers Seydler Bank AG, ein eigenständiges Tochterunternehmen der an der London Stock Exchange gelisteten Close Brothers Group plc, London. Das Unternehmen ist eine der größten Wertpapierhandelsbanken in Deutschland. Roth arbeitet seit 1990 an der Frankfurter Wertpapierbörse und ist seit 11 Jahren bei der Close Brothers Seydler Bank AG, bei der er sowohl Erfahrungen im Rentenhandel als auch im Handel mit deutschen und ausländischen Aktien auf dem Frankfurter Parkett der Deutschen Börse gesammelt hat.
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)
AXC0101 2009-07-23/11:42