Von Ian Talley
US-Finanzminister Jacob Lew hat Europa und Japan vor dem G20-Gipfel in Australien eine zu lasche und unentschlossene Wirtschaftspolitik vorgeworfen. Europa droht nach seiner Einschätzung das Risiko eines "verlorenen Jahrzehnts" beim Wirtschaftswachstum, wenn nicht aggressivere Anstrengungen unternommen werden, die Nachfrage anzukurbeln. Eine mögliche neue Rezession in der Eurozone könnte die fragile weltwirtschaftliche Erholung zum Stillstand bringen, warnte er.
Lew warf zugleich die Frage auf, ob der wirtschaftliche Umbau in Japan ausreichend sein wird, um die Konjunktur der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Auch hier mahnte er stärkere Maßnahmen zur Förderung des Wachstums an.
Die pointierte Kritik des Finanzministers bei einer Rede in Seattle dürfte einen Vorgeschmack auf die Forderungen geben, die US-Präsident Barack Obama den anderen Staats- und Regierungschefs beim anstehenden Treffen der Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) im australischen Brisbane präsentieren wird.
Die Probleme in Europa und Japan belasten aus Sicht der USA zusammen mit der Verlangsamung in den großen Schwellenländern das Wachstum der Weltwirtschaft und stellen auch ein Risiko für die Konjunkturerholung im eigenen Land dar.
Die Weltwirtschaft steht laut Lew an einem Scheideweg. "Es ist Zeit für die G20, aktiv zu werden, und dies ist dringend." Aus seiner Sicht hat die Strategie der USA eine Vorbildfunktion für andere Regierungen. Eine nachhaltige Erholung mit solidem Wachstum erfordere ein breite Herangehensweise, die alle Hebel der Wirtschaftspolitik umfassen müsse - Geldpolitik, Fiskalpolitik und Strukturreformen, sagte er.
Während die US-Konjunktur offensichtlich Fahrt aufnimmt, ist die Regierung in Washington zunehmend frustriert darüber, dass die Staats- und Regierungschefs in Europa sich nicht schnell genug bewegen, um ihre Volkswirtschaften wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Stattdessen setzten sie auf die Europäische Zentralbank, um Investitionen anzuschieben. Die Geldpolitik ist, wie Lew betonte, erwiesenermaßen nicht ausreichend, ein gesundes Wirtschaftswachstum zu erzeugen.
"Resolute Maßnahmen durch die Einzelstaaten und auf europäischer Ebene sind notwendig, um das Risiko eines deutlichen Abrutschens zu verhindern", sagte er. "Die Welt kann sich kein verlorenes Jahrzehnt in Europa leisten."
Gleichzeitig zeigt sich die Obama-Administration besorgt darüber, dass sich Japans Regierung zu stark auf die lockere Geldpolitik der Zentralbank verlässt, anstatt selbst Initiativen zu ergreifen, die Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen und die Wachstumsperspektiven wiederzubeleben. Das letzte Wort darüber, ob die Strategie von Ministerpräsident Shinzo Abe zur Restrukturierung der japanischen Wirtschaft genüge, um einen wirklichen Wandel zu erreichen, sei noch nicht gesprochen, sagte Lew.
Die massive Kritik des Ministers an den aus US-Sicht lustlosen Bemühungen zur Belebung der Wirtschaft dürften Spannungen zwischen den USA und ihren Partnern über die Abschwächung von Yen und Euro zum Dollar auslösen.
Washington hat bislang die Abwertung der beiden Währungen als notwendige Starthilfe für neues Wachstum toleriert. Ein Anziehen der Konjunktur in Europa und Japan dürfte auch die Nachfrage nach US-Exporten befruchten, so die Kalkulation. Doch eine zu starke Fokussierung der Regierungen auf schwache Währungen zur Wachstumsbeschleunigung könnte auf US-Seite zu einer schärferen Rhetorik führen. Dann würden die US-Unternehmen Druck auf Washington aufbauen, da ihre Exporte durch einen zu starken Dollar gebremst werden dürften.
"Es ist entscheidend, dass die Länder sich an die Wechselkurs-Verpflichtungen multilateraler Gruppen wie IWF, G7 und G20 halten", betonte der US-Finanzminister. "Die eigenen Probleme auf Kosten des Nachbarn zu lösen, kann angesichts der weltwirtschaftlichen Herausforderungen nicht der Weg sein."
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November 13, 2014 02:34 ET (07:34 GMT)
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