Mainz (ots) - Heimweh nach früher hab ich keins/Nach alten Kümmernissen/Deutschland Deutschland ist wieder eins/Nur ich bin noch zerrissen." Wolf Biermann hat diese Zeilen in der Nachwendezeit geschrieben. Dass Bundespräsident Steinmeier sie an den Anfang seiner Mainzer Rede zur deutschen Einheit stellt, 27 Jahre nach Vollzug dieser Einheit, sagt allerdings alles. Die Mauer, die nur ein Jahr länger stand, sie hat sich zu einem Graben gewandelt. Nach der Bundestagswahl vor zehn Tagen kann sich niemand mehr davor drücken, diesen Graben wahrzunehmen. Einen Graben, der den bewegenden Bildern von 1989 und 1990 trotzt, den spiegelblanken Autobahnen, den restaurierten Innenstädten des nahen Ostens, den herausgeputzten Zielen des Deutschland-Tourismus. Zum ersten Mal spricht ein Bundespräsident aus, dass wir uns jahrelang etwas vorgemacht haben. Dass zu einem Leben in Würde nicht nur soziale Absicherung und auskömmliche Renten gehören. Der Siegeszug der Nationalisten hat bei der Bundestagswahl schonungslos offengelegt, dass sich ein Großteil der Ostdeutschen im liberalen, weltoffenen Deutschland nicht beheimatet fühlt. Die Entwertung ihrer Lebensläufe und unser Desinteresse an ihren Geschichten sind sicher Ursachen dafür. Zur Suche nach dem Magnetismus des Autoritären gehört aber ebenso, dass im Osten weder der Nationalsozialismus noch die stalinistische Seite der DDR je richtig aufgearbeitet wurden. Ein großes Versäumnis der politischen Bildung. Nicht von ungefähr gab es auch nie den Hauch eines ostdeutschen '68. Zugleich macht der Bundespräsident in seiner großen Rede deutlich, dass wir den Weckruf der Wahlergebnisse nicht nur auf Ostdeutschland beziehen dürfen. Thüringer und Sachsen mögen dem Trugschluss unterliegen, die Entvölkerung ganzer Landstriche für ein ausschließlich ostdeutsches Phänomen zu halten. Im Hunsrück, im Odenwald und im Bayerischen Wald verödenden die Dörfer ja genauso. Wir sollten die Wahlergebnisse deshalb auch als Frühwarnsystem für die Gräben begreifen, die sich längst auch im Westen zwischen boomenden Ballungsräumen und vergessenen Gegenden auftun. Übrigens eine globale Entwicklung, die ihren Sprengstoff bei der Präsidentenwahl in den USA ebenso bewiesen hat wie beim Siegeszug des orthodoxen Islam als Folge der rein urbanen arabischen Revolution. Natürlich dürfen wir nicht nachlassen, für Demokratie und Freiheit und für das europäische Friedensprojekt zu werben. Vielleicht müssen wir sogar erst lernen, dem rechten Hass entschiedener zu trotzen. Das wird aber kaum helfen, wenn wir uns nicht ernsthafter den Menschen zuwenden, die in unserem Vorwärtsdrang so leicht verloren gehen.
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