Aachen (ots) - Aachen und die europäische Welt erwarteten von der Bundeskanzlerin eine Mut machende, aufrüttelnde, in die Zukunft weisende Rede. Aber Merkel verweigerte die Antwort auf Emmanuel Macrons Visionen und Ideen für die Erneuerung Europas. Sie kündigte deutsch-französische Vorschläge für Juni an. Damit war die Chance vertan, schon beim Karlspreis eine gemeinsame Botschaft mit Macron zu verkünden und endlich ein Signal zu setzen, dass Deutschland an seiner Seite ist. Der Franzose brillierte: inhaltlich, rhetorisch und in seiner typischen Deutlichkeit und seinem Mut, vor allem aber mit seinem Talent, Menschen mitzureißen und sie zu begeistern. Das fehlt der Kanzlerin, die zögert, die auf wen auch immer (falsche) Rücksicht nimmt, die vertagt und Macrons fast flehentliche Aufforderung, nicht länger zu warten und jetzt etwas zu tun, unkommentiert lässt. Diese Mumifizierung von Visionen mag zwar in der Welt physikalischer Kühle ein berechtigtes und notwendiges Merkmal sein, aber jetzt ist etwas mehr gefragt als bloße Physik: europäische Dynamik, europäisches Handeln und europäische Souveränität, kurzum: positive Kommunikation statt Schweigen. Das bleibt angesichts der aktuellen Lage ernüchternd. Es stimmt zwar, dass die Europäer die ganz große Lippe gegenüber Donald Trump und den USA nicht riskieren können. Dazu sind sie zu schlecht aufgestellt, zu uneinig, und die interne Diskordanz der EU ist mindestens so riesig wie die transatlantischen Streitigkeiten. Trotzdem war es wichtig und richtig, dass Macron ungeschminkt das Ende freundschaftlicher Beziehungen mit dem Brandstifter in Amerika aussprach. Nun mag Angela Merkel mit ihrer Erfahrung und ihrem in vielen Situationen so souveränen Krisen-Management denken, der gute Macron werde gewiss bald von den Alltäglichkeiten der EU eingeholt und desillusioniert. Das genau wäre fatal, und deshalb hat sie erst recht die Pflicht, ihm Rückendeckung zu geben: Zur Psychologie des Erfolgs gehören nicht nur Zahlen, Bilanzen, Wachstum oder Euro-Haushalte, sondern die Erkenntnis , dass man Nationalismen nicht mit Nachlaufen und billigen Überholversuchen überwindet, sondern mit mutigem Einsatz für ein demokratisches Europa der Solidarität und des Zusammenhalts und das mit einer anderen Melodie als der eintönigen Leier des Ewiggestrigen. Europa braucht Vielfalt: die Vielfalt der Ideen, der Chancen, der Strategien, der kulturellen Mentalitäten, aber gewiss nicht die Vielfalt der Bedenkenträger und die Passivität des Abwartens und Vertagens. Europa ist nicht zum Nulltarif zu haben, weder in finanzieller noch in geistiger Hinsicht. Und es muss uns jetzt, wo die Masken in Washington endgültig fallen, lieb und teuer sein. Es ist deshalb dringend auf die Aktivität des Gestaltens angewiesen. Das war Emmanuel Macrons Aachener Botschaft. Die Bundeskanzlerin sollte nach der Enttäuschung in Aachen nun endlich im Juni ihren Beitrag dazu liefern.
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