Die Entscheidung über die Zukunft der schwarz-roten Koalition wird aller Voraussicht nach an diesem Sonntag fallen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kündigte am Mittwoch in Berlin an, er werde am Sonntag über mögliche Zurückweisungen von Asylbewerbern an der deutschen Grenze entscheiden. Seehofer sagte zwar, er wolle zunächst in aller Ruhe über die Ergebnisse des EU-Gipfels reden, bei dem sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag und Freitag um eine europäische Lösung bemühen will. Der CSU-Chef betonte aber: "Wir wollen schon am Sonntag Klarheit." Ein Alleingang des Ministers könnte den Bruch des Unions-Bündnisses und damit ein Ende der Koalition bedeuten.
Seehofer will anordnen, dass Asylbewerber, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, künftig an der Grenze abgewiesen werden. Merkel ist dagegen, so etwas ohne Abstimmung mit den EU-Partnern zu tun, und will bei dem Gipfel in Brüssel eine europäische Lösung mit bilateralen Rücknahme-Vereinbarungen erreichen. Die CSU hat erklärt, sie würde auf die Zurückweisungen an der Grenze verzichten, falls Merkel auf EU-Ebene Vereinbarungen erzielen sollte, die den gleichen Effekt hätten wie die Pläne von Seehofer. Der mahnte: "Wir wollen keinen Asyltourismus in Europa."
Die Spitzen von CDU, CSU und SPD hatten sich angesichts der Verwerfungen in der Asylfrage am Dienstagabend zu einem Koalitionsausschuss getroffen. Das Treffen brachte jedoch keine Annäherung. Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte am Mittwoch in der ARD, es bestehe zwar weiter Hoffnung, dass man eine Lösung finde. Er räumte aber ein, die Lage sei "sehr ernst - das hat man gestern auch in den Gesprächen gemerkt".
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte in der ARD, man warte nun ab, ob Merkel in Brüssel entscheidend vorankomme. Wenn nicht, müsse Seehofer handeln. Sollte dieser tatsächlich gegen den ausdrücklichen Willen Merkels Zurückweisungen anordnen, könnte die Kanzlerin ihn sofort als Minister entlassen - was zum Bruch zwischen CDU und CSU und damit zum Ende der Koalition führen dürfte.
SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sagte in der ARD, sollte Seehofer handeln, sei Merkel am Zug, darauf zu reagieren. Nahles warnte Seehofer, im Alleingang Zurückweisungen anzuordnen. Es drohten gravierende Auswirkungen auf ganz Europa. Einseitige Zurückweisungen seien auch nicht mit dem EU-Recht vereinbar. Auf die Frage, ob sich die SPD angesichts des Zerwürfnisses zwischen CDU und CSU auf eine vorgezogene Bundestagswahl vorbereite, sagte sie: "Das weiß ich noch nicht, (...) das warten wir jetzt mal ab." Die Regierung sei in einer ausgesprochen angespannten Lage. Sie kritisierte die Union scharf und beklagte, es sei unbefriedigend, dass die Hängepartie weitergehe.
Am Sonntag wollen die Führungsmannschaften von CDU und CSU getrennt über die Ergebnisse des EU-Gipfels und das weitere Vorgehen beraten. Die CSU-Spitze trifft sich dazu in München, die CDU-Spitze in Berlin.
Für Merkel ist die Ausgangslage bei diesem entscheidenden EU-Gipfel schwierig. Die EU-Staaten sind in der Asylfrage seit Jahren tief zerstritten. Mehrere Länder haben schon kundgetan, dass sie nicht bereit sind, Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen. Merkels Umfeld dämpfte denn auch die Erwartungen an das Treffen. Aus Regierungskreisen in Berlin hieß es, es werde am Rande des Brüsseler Gipfels bilaterale Gespräche zu der Frage geben. Erste Signale seien positiv. Fest vereinbart seien solche Treffen aber noch nicht. Gespräche mit anderen Staaten müssten auch nicht notwendigerweise auf der Spitzenebene geführt werden.
EU-Ratschef Donald Tusk ermahnte die EU-Länder, dringend zu einer gemeinsamen Linie bei der Migrationspolitik zu finden, um den Vormarsch von Populisten und Radikalen in Europa zu stoppen. "Es steht sehr viel auf dem Spiel, und die Zeit ist kurz", schrieb Tusk in seinem Einladungsschreiben zu dem Gipfel.
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte vor dem EU-Gipfel Kompromissfähigkeit in der europäischen Asylpolitik. Die Frage, ob es eine gemeinsame Lösung gebe, werde auch über den Zusammenhalt Europas entscheiden, sagte Steinmeier in Bremen.
Auf europäischer Ebene werden auch Flüchtlingslager außerhalb der Europäischen Union diskutiert. Allerdings ist unklar, welche Länder sich zu ihrer Einrichtung bereit erklären könnten. Die Balkanländer machten deutlich, dass sie solche Zentren auf ihrem Boden ablehnen. "Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren", sagte der albanische Ministerpräsident Edi Rama der "Bild"-Zeitung (Mittwoch). Vor Rama hatten zuletzt auch Spitzenpolitiker in Mazedonien und Bosnien-Herzegowina solche Zentren ausgeschlossen.
Hoffnung gab es am Mittwoch für die 230 Passagiere des Rettungsschiffes "Lifeline", die zuvor tagelang auf dem Mittelmeer hatten ausharren müssen. Malta sagte dem Boot einen sicheren Hafen zu. Das Schiff werde aber beschlagnahmt, sagte Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat. "Dieses Schiff war staatenlos, es wird festgesetzt." Gegen die Besatzung der deutschen Hilfsorganisation werde ermittelt. Acht EU-Länder hätten sich bereit erklärt, Flüchtlinge von dem Boot zu übernehmen. Seehofer hatte zur Bedingung für eine mögliche Aufnahme von Passagieren gemacht, dass das Schiff zunächst festgesetzt werde. Ob Deutschland in dem Fall tatsächlich Flüchtlinge übernehmen würde, hatte er aber noch nicht fest zugesagt./jac/hrz/tl/abc/ir/DP/men
AXC0271 2018-06-27/17:57