
Von Denise Roland und Robert Wall
BRÜSSEL/LONDON (Dow Jones)--Unternehmen diesseits und jenseits des Ärmelkanals kommen nun nicht mehr umhin, sich für den Fall eines ungeordneten Brexit zu rüsten. Mit dem erfolglosen Versuch der britischen Premierministerin Theresa May, ihr mit der EU ausgehandeltes Austrittsabkommen durchs Parlament zu bringen, ist der Druck nochmals gestiegen. Den 29. März als Austrittsdatum vor Augen, arbeiten bereits viele große Unternehmen daran, dem vielfach prognostizierten Desaster zu entgehen.
"Dass wir ein bisschen weniger von diesem oder jenem nach Großbritannien verkaufen, wäre bei weitem nicht das Schlimmste", sagt Hugo Fry, der seit über zwei Jahren beim französischen Pharmaunternehmen Sanofi für den Ernstfall plant. "Es geht darum zu verhindern, dass Patienten plötzlich ohne Medizin dastehen", macht er deutlich.
Viele britische Unternehmer haben Mays Deal mit der EU noch nie gemocht. Beim Referendum von 2016 hatten sie auf einen anderen Ausgang gehofft. Danach blieb ihnen nur, wenigstens für den Verbleib Großbritanniens in der Zollunion zu werben, um den Kontakt mit ihren wichtigsten Handelspartnern nicht zu gefährden. Nun ist nicht mal mehr das garantiert.
Mit dem Austrittsabkommen der Premierministerin hätte sich die Wirtschaft notfalls noch abfinden können. Gegenüber einem ungeordneten Brexit wäre es das kleinere Übel gewesen. Zumindest hätte ein solcher Vertrag die mehr als zwei Jahre dauernde Unsicherheit beendet, die Investitionsentscheidungen erschwerte und schwerwiegende Folgen sowie hohe Kosten im grenzüberschreitenden Handel befürchten ließ. Mays angekündigter Versuch, nach dem überstandenen Misstrauensvotum doch noch eine Kompromisslösung für einen geordneten Brexit zustande zu bringen, scheint wenig erfolgversprechend, solange die EU weitere Zugeständnisse ablehnt.
"Es gibt keine Worte, um die Frustration, die Ungeduld und den wachsenden Zorn der Wirtschaft zu beschreiben", sagte Adam Marshall, Direktor der britischen Handelskammer, direkt nach der Abstimmung. "Grundlegende Fragen der Realwirtschaft bleiben unbeantwortet."
Viele große Unternehmen haben bereits Millionen ausgegeben, um sich rechtzeitig mit dringend benötigten Teilen und Komponenten für ihre Produktion einzudecken. Sie suchen nach Wegen, um die Lieferketten zusammenzuhalten, auch wenn an den Häfen in Dover und Calais nichts mehr gehen sollte.
"Man muss jede Möglichkeit in Betracht ziehen", sagt Hugo Fry von Sanofi. Mit seinem Team aus 20 Leuten setzt er seit dem Referendum 2016 alles daran, um das Schlimmste zu verhindern.
Sanofi liefert Medizin und Impfstoffe auf die Insel. Produziert wird überwiegend außerhalb Großbritanniens. Frys Befürchtung ist, dass die Pharmaerzeugnisse in die Mühlen zeitaufwändiger Zollkontrollen geraten. Neben anderen Medikamenten schickt Sanofi ein Fünftel des britischen Insulinbedarfs über den Ärmelkanal.
Lantus ist in Großbritannien eines der am häufigsten verschriebenen Mittel bei Diabtes. Produziert wird der Arzneistoff von Sanofi in Frankfurt. Einmal pro Woche verlässt ein Kühltransporter das Werk in Richtung Calais. Von dort aus geht es entweder per Schiff oder durch den Eurotunnel hinüber nach Dover. Dort angekommen führt der Weg weiter zu einem Verteil-Center nach Nordengland. Von hier aus werden alle Apotheken im Land beliefert. Diese Reise dauert momentan zwei bis drei Tage.
Vor über einem Jahr hat Fry bereits Notfallpläne aufgestellt, damit es dabei bleibt und die Versorgung nicht abreißt. Mit Blick auf das Austrittsdatum 29. März hat Sanofi seine Produktion in Deutschland hochgefahren und baut in Großbritannien einen Vorrat auf, der den Apotheken zusätzliche sechs Wochen über die Runden helfen soll. Die britische Regierung hat alle Arzneimittelhersteller aufgefordert, diesem Beispiel zu folgen.
Sanofi testet auch alternative Fährverbindungen für den Fall, dass die Abfertigung in Dover zusammenbricht. Die Häfen von Harwich in Ostengland und Newhaven südliche von Dover böten sich eventuell an. Neben Frankfurt hat Fry auch alle anderen europäischen Werke in seine Notfallplanung einbezogen.
Aber nicht nur von Kontinentaleuropa nach Großbritannien bauen sich die Herausforderungen auf. Auch umgekehrt drohen Probleme. Bis vor Kurzen noch nutzte Sanofi das Werk in Haverhill im Osten Englands als Ort für die Endverpackung und Teststätte für Medikamente bei seltenen Erkrankungen. Nun hat Fry diese Aufgaben zu Sanofis Werk im irischen Waterford verlagert. Der Grund: Es ist bislang nicht geklärt, ob Qualitätstests innerhalb Großbritanniens nach einem Brexit noch von der EU anerkannt werden. "Viele solcher Entscheidungen sind nicht mehr rückgängig zu machen", sagt Fry.
Der britische Hersteller von Flugzeugtriebwerken, Rolls Royce Holdings, erwägt, bei einem Brexit alle Seehäfen zu meiden. Das Unternehmen schickt seine Triebwerke, von denen jedes mehr als sieben Tonnen wiegen kann, normalerweise per Lkw zur Airbus-Montage auf den Kontinent. Stattdessen wird nun in Erwägung gezogen, die Triebwerke erst nach Wales zu fahren und von dort mit dem Riesentransporter Beluga auszufliegen.
Momentan verlassen jeden Monat zehn Langstrecken-Großraumflugzeuge vom Typ A350 die Montagehallen im französischen Toulouse. In jedem stecken Bauteile aus britischer Produktion - angefangen bei den Tragflächen bis hin zu den Turbinen. Für Airbus steht viel auf dem Spiel. Sollten die Teile nach einem Brexit nicht mehr rechtzeitig ankommen, drohen nicht nur Verspätungen bei der Auslieferung. Auch verärgerte Kunden könnten sich abwenden.
"Die Unsicherheit ist kaum noch zu ertragen", sagte Airbus-Chef Tom Enders vergangene Woche.
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January 18, 2019 06:44 ET (11:44 GMT)
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