
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte ihr Inflationsziel nach Einschätzung der Commerzbank flexibler interpretieren. Der EZB-Experte der Commerzbank, Michael Schubert, sagte vor dem Hintergrund von Debatten über eine mögliche Strategiediskussion innerhalb der EZB: "Das Problem liegt darin, dass sie versucht haben, das Inflationsziel möglichst schnell zu erreichen. Die Lösung liegt darin, dass sie ihren Zielwert anders interpretieren."
Schubert könnte sich vorstellen, dass die EZB den Märkten zu verstehen gibt, dass sie auch mit 1,5 Prozent leben kann, wenn zugleich das Wachstum kräftig ausfällt. "Wenn man das als etwas hinstellen würde, was gar nicht so schlimm ist, wäre die Wahrnehmung an den Märkten eine andere gewesen", sagte er. Seiner Ansicht nach lag der Fehler der EZB schon darin, dass sie ihr Programm zum Ankauf von Wertpapieren gleich mit einem zu hohen Volumen begonnen und zu hohe Erwartungen geweckt hat.
Nachvollziehbar findet der Ökonom die Auffassung des Chefökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Claudio Borio, dass die Zentralbanken mit ihrer Geldpolitik nicht einem von realen Faktoren bestimmten sinkenden "neutralen" Zins folgen, sondern diesen Zins ihrerseits nach unten drücken.
Die offizielle Lesart der Zentralbanken ist dagegen, dass sie die Marktzinsen mit Hilfe ihres Leitzinses unter den - allerdings nicht direkt beobachtbaren - neutralen Realzins bringen, wodurch Konjunktur und Inflation angeregt werden. Der neutrale Realzins seinerseits wird demnach nur von realen Faktoren beeinflusst, nicht von der Geldpolitik. Demnach sind die Leitzinsen derzeit so niedrig, weil der neutrale Zins so stark gefallen ist.
Borio ist dagegen der Ansicht, dass die Zentralbanken keine Chance haben, diesen neutralen Zins "passiv" zu verfolgen, sondern dass sie ihn ihrerseits beeinflussen. Der Versuch der EZB, die Zinsen mit milliardenschweren Anleihekäufen unter die nominale Nulllinie zu drücken, wäre dann verfehlt und teuer.
Commerzbank-Analyst Schubert bezweifelt, dass es einen für längere Zeit negativen Neutralzins geben könnte: "Der natürliche Zins kann nur dann dauerhaft so deutlich unter das Potenzialwachstum sinken, wenn sich die durch die Finanz- und Staatsschuldenkrise hervorgerufenen Änderungen der Spar- und Investitionsneigung als dauerhaft erweisen. Aber die Verunsicherung sollte mit den Jahren nachlassen und ein Schuldenabbau dürfte die Investitionsneigung erhöhen", sagte er.
Zur EZB-Geldpolitik urteilt er: "Von der Legitimität her überschreitet die EZB ihr Mandat, auch wenn ich das juristisch nicht beurteilen kann."
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May 16, 2019 10:36 ET (14:36 GMT)
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