Mainz (ots) - Mann, sind wir undankbar. Mann sind wir vergesslich. Mann sind wir verantwortungslos. Undankbar, weil wir aus den Augen verloren haben, was uns der europäische Binnenmarkt an Wohlstand gebracht hat. Vergesslich, weil uns die Erzählung vom friedensstiftenden Europa als Lehre aus zwei Weltkriegen historisch entrückt vorkommt. Verantwortungslos, weil wir nicht begreifen wollen, welcher Gefahr wir ausgesetzt sind, wenn sich die Rechtspopulisten anschicken, Europa vor sich herzutreiben. Mit einem schlechten Gewissen und mit Panikmache wollen uns die integrativ gesinnten Demokraten an die Wahlurne treiben. Pädagogik und Belehrung aber lösen in der politischen Kommunikation bekanntlich eher Trotzreaktionen als Einsichten aus. In Zeiten schwindender Parteienbindung wollen die Wähler vielmehr davon überzeugt werden, sich zum Urnengang aufzuraffen. Wer nach Polen, Ungarn und Italien schaut, weiß, dass es keinen Anlass zur Marginalisierung der Gefahr von rechts gibt. Und doch spielt das Geraune von der Schicksalswahl, spielt ein Wahlkampf der Angst den Radikalen eher noch in die Karten. Weil es ihre tatsächlichen Wahlaussichten überhöht. Weil es ihre Fähigkeiten überschätzt, Nationalismus und Chauvinismus zu europäisieren. Und weil Angstmache grundsätzlich eher Starre als Ermutigung auslöst. Zudem machen sich die Mitglieder dieser Einheitsfront der Katastrophenverhinderer mit ihrem Pathos kaum noch voneinander unterscheidbar. Die Populisten, die sich schon in ihrer Opferrolle so wohl fühlen, können sich nun auch noch zur einzigen Opposition in einem politischen Europa aufspielen, das eine parlamentarische Opposition im klassischen Sinne gar nicht kennt. Mehr Pragmatismus also bitte und weniger Beschwörung oder Idealisierung. Erklärt uns bitte vor allem, wofür wir zur Europawahl gehen sollen und nicht wogegen. Zum Beispiel für ein Europa, das Google, Facebook und Amazon nicht nur besteuern will, sondern auch bereit ist, ihre Datenmonopole zu brechen. Für ein Europa, das gegen China den industriepolitischen Wettlauf um die künstliche Intelligenz aufnimmt. Für ein wehrhafteres Europa, das die Sicherheitsinteressen seiner osteuropäischen Frontstaaten ernst nimmt. Für ein sozialeres Europa, das sich nicht länger mit der zersetzenden Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa abfindet. Für ein klimafreundliches Europa, das endlich auf dem gesamten Kontinent die irrwitzige Kerosin-Subventionierung aufhebt. Für ein Europa, das sogenannte Steuerparadiese so wirkungsvoll wie möglich austrocknet. Für ein Europa also, das sich wieder bewusst wird, in der vermeintlichen Zange zwischen gewissenlosen und autoritären Ultrakapitalisten eigene Maßstäbe setzen zu können. Wer solche Ziele vorgibt, kann seine Zuversicht auch darauf gründen, dass sich Europa in den Krisen der vergangenen Jahre in Wahrheit widerstandsfähiger gezeigt hat als wahrgenommen. Die Geschlossenheit, mit der sich die EU den Erpressungsversuchen der scheidenden Briten widersetzt hat, war jedenfalls ein Zeichen der Stärke. Die europäische Datenschutzverordnung ist der erste Hinweis darauf, dass sich die EU nicht dem Diktat der Netzmonopolisten beugen muss und dass sie ein Gegenmodell zum chinesischen Modell der totalen Überwachung entwerfen kann. Europa braucht endlich mehr Mut, einen Ordnungsrahmen für die großen Zukunftsfragen zu schaffen. Es braucht mehr Mut, Überregulierungen im Kleinen zurückzunehmen. Und es braucht auch den erkennbaren Mut, sich wieder stärker zu den nationalstaatlichen Identitäten seiner Mitgliedsländer zu bekennen. Auch dieses Mal werden nämlich Europas Kleinbürger, und nicht etwa Europas Kosmopoliten die Wahlen zum Europäischen Parlament entscheiden.
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