Die Europäische Zentralbank (EZB) hat am Donnerstag wie erwartet ihre Zinsen nicht angetastet. Sie hat allerdings ihr Zinsversprechen ausgeweitet und will jetzt bis mindestens Mitte 2020 ihren Leitzins nicht anheben. Draghi verwies vor allem auf die Risiken durch den Protektionismus. Zudem hat die EZB Einzelheiten zu ihren Langfristkrediten (TLTROs) veröffentlicht.
Das sagen Experten zu den Beschlüssen:
Uwe Burkert, Chefvolkswirt und Leiter LBBW Research:
"Die etwas höheren Zinsen für TLTRO-III deuten darauf hin, dass die EZB langsam aus der Politik der Negativzinsen aussteigen will. Aber das wird noch lange dauern, wenn es in diesem Schneckentempo geschieht. Die EZB will der Konjunktureintrübung Rechnung tragen, sie will zudem die Banken motivieren, sich an TLTRO-III zu beteiligen. Darauf dürfte die Anpassung der Forward Guidance abzielen. Für die Märkte dürften die Auswirkungen letztlich überschaubar bleiben, denn es war sowieso nicht mehr für das erste Halbjahr 2020 mit einer ersten Zinserhöhung gerechnet worden."
David Zahn, Leiter europäische Anleihen bei Franklin Tempelton Investment:
"Wir sind seit mehreren Wochen der Meinung, dass die Juni-Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) wichtiger sei, als viele Kommentatoren erwartet haben. Und es hat sich für uns bewahrheitet. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die EZB nach wie vor eine inflationszielorientierte Zentralbank ist. Als die Zinserwartungen des Marktes für den Euroraum in den letzten Monaten nachgegeben haben, erwarteten wir also entschlossenes Handeln von EZB-Präsident Mario Draghi und seinen Kollegen. (...) Aber solange die EZB ein inflationszielorientiertes Organ bleibt, glauben wir, dass sie weiterhin eine akkommodierende Geldpolitik verfolgen wird."
Wolfgang Bauer, Fondsmanager im Anleiheteam bei M&G Investments:
"EZB-Präsident Mario Draghi zückte heute nicht seine sprichwörtliche große Bazooka, sondern beschränkte sich auf ein kleineres Kaliber. Zugegeben, die Aussicht auf Zinserhöhungen in der Eurozone wurde weiter nach hinten verschoben, womit Zinsen in der Eurozone bis mindestens Mitte 2020 auf dem gegenwärtigen ultra-niedrigen Niveau verharren werden. Aber, um ehrlich zu sein, diese Ankündigung kam wenig überraschend. Der Kollaps der Rendite auf deutsche Staatsanleihen in den vergangenen Wochen signalisierte ja, dass sich die Märkte nicht um mögliche Zinserhöhungen sorgen, sondern ganz im Gegenteil eine weitere Zinssenkung als wahrscheinlicher erachten."
Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt bei der DZ Bank:
"Mit einem geldpolitischen Maßnahmenpaket, das nur minimal großzügiger erscheint als das letzte, hat die EZB heute eine expansive Nachricht an die Märkte gesendet. Durch die Verlängerung der Forward Guidance auf Mitte 2020 wird diese nun auch der Nachfolger von EZB-Präsident Mario Draghi mittragen müssen. Nur scheint es so, als ob einige Marktteilnehmer erwartet hätten, dass Draghi schon heute alle Chips auf den Tisch legt. (...) Bei den Maßnahmen hat sich die EZB aber klugerweise zurückgehalten. Draghi hat in seinem Eingangsstatement angedeutet, dass er noch Reserven habe - Leitzinssenkungen oder eine Reaktivierung des Anleiheankaufprogramms. Hätte die EZB alle Mittel ausgereizt, hätte sie die teils überzogenen Sorgen der Markteilnehmer am Ende noch bestätigt."
Christian Lips, Chefvolkswirt bei der NordLB:
"Die EZB hat auf ihrer heutigen Ratssitzung vor allem mit einer erneuten Anpassung der Forward Guidance überrascht. Die Leitzinsen bleiben demnach mindestens bis Mitte 2020 unverändert. Allerdings wird hiermit nicht eine Zinssenkung signalisiert, wie es die Marktteilnehmer zuletzt bereits begonnen hatten, einzupreisen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollte die EZB vermeiden, durch hektische Politikanpassungen weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Draghi betonte andererseits aber erneut die Abwärtsrisiken für den Wirtschaftsausblick und die Handlungsbereitschaft der EZB. Dass einige Ratsmitglieder bereits Zinssenkungen oder eine Wiederbelebung des Ankaufprogramms ins Spiel brachten, ist ein Fingerzeig für den Fall, dass sich die Abwärtsrisiken materialisieren sollten."
Thomas Romig, Head of Multi Asset bei Assenagon Asset Management:
"Die EZB hat enttäuscht. In Anbetracht eines Übergewichts der Abwärtsrisiken und der aktuellen Geldpolitik der Fed, hätte der Markt mehr Inspiration in Bezug auf die Anwendung neuer oder zumindest der bekannten geldpolitischen Instrumente erwartet. Mit den Entscheidungen hat man genau das Gegenteil von dem erreicht, was die EZB eigentlich gerne sehen würde - nämlich einen schwächeren Euro, der die Wirtschaft der Eurozone hätte stützen können. Stattdessen hat der Euro nach der Bekanntgabe der Ergebnisse zugelegt. Deshalb rechne ich damit, dass es in naher Zukunft in einer Rede oder Verlautbarung der EZB-Führung mehr Hinweise hinsichtlich einer expansiveren Geldpolitik geben wird, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken."
Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP-Bank:
"Mario Draghi teilt Ängste vor einem größeren wirtschaftlichen Einbruch nicht. Dies spiegelt sich auch in den nur leicht angepassten Prognosen des volkswirtschaftlichen Stabes der EZB wider. Mario Draghi selbst führte an, dass er keine Rezession erwarte. Auch die merklich gefallenen Inflationserwartungen nimmt der oberste Währungshüter auf die leichte Schulter. Zumindest schob Draghi noch nach, dass im schlimmsten Falle weitere Maßnahmen zur Verfügung stünden. Dazu würde eine weitere Senkung des Leitzinses oder eine Wiederauflage der Anleihekäufe gehören. Damit öffnet sich die Tür für weitere Aktionen falls sich der wirtschaftliche Ausblick doch noch eintrübt."
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AXC0275 2019-06-06/17:07