Von Andrea Thomas und Andreas Kißler
BERLIN (Dow Jones)--Der SPD-Parteitag hat sich für Nachverhandlungen mit dem Koalitionspartner Union ausgesprochen. Die Entscheidung fiel "mit übergroßer Mehrheit", gab die saarländische SPD-Chefin Anke Rehlinger bekannt, die die Abstimmung leitete. Es gab demnach nur einige wenige Gegenstimmen und Enthaltungen in einstelliger Zahl. Die Sozialdemokraten wollen einen weitreichenderen Klimaschutz, mehr Investitionen in die Infrastruktur und einen höheren Mindestlohn durchsetzten. Eine klare Positionierung zur Zukunft der großen Koalition wurde vermieden.
Die rund 600 Delegierten des Parteitags stimmten dem Leitantrag des neuen SPD-Führungsduos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu. Darin hatten die beiden neuen SPD-Vorsitzenden deutlich mehr Kompromissbereitschaft gegenüber der Union erkennen lassen als auf den zahlreichenden Regionalkonferenzen vor dem Mitgliedsvotum zur neuen Parteispitze. Beide betonten, dass sie nicht Hals über Kopf aus der großen Koalition heraus wollen, sondern den Verbleib im Bündnis festmachen an dem, was sie an sozialdemokratischen Positionen durchsetzen können.
Einen Antrag von Parteilinken, der einen sofortigen Ausstieg der Sozialdemokraten aus der großen Koalition forderte, lehnten die Delegierten bei dem Parteitag kurz vor dem Beschluss über den Leitantrag hingegen ab. Zahlreiche Delegierte stellten sich in der Debatte hinter Esken und Walter-Borjans. Auch Juso-Chef Kevin Kühnert, ursprünglich ein Gegner der großen Koalition, unterstützte die neuen Parteichefs in ihrem Ansinnen, zunächst ergebnisoffene Gespräche mit der Union über Maßnahmen als Bedingung für eine Fortführung des Bündnisses zu führen. "Ich vertraue den beiden."
In dem Leitantrag fordert die SPD mehr Anstrengungen im Klimaschutz und visiert eine Bepreisung des Kohlendioxidausstoßes an, der über dem mit der Union vereinbarten Einstiegspreis von 10 Euro pro Tonne liegen soll. Im Gegenzug soll es einen besseren sozialen Ausgleich geben für die höheren Öl- und Benzinpreise. Auch stimmten sie den Forderungen nach einem Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen und einem Ausbau der Windenergie zu, der nicht von Regulierungsvorschriften abgewürgt werden darf. Beim Kohleausstoß wollen sie wenn möglich das Ausstiegsdatum von 2038 auf 2035 vorverlegen.
450 Milliarden Euro in zehn Jahren
In die öffentliche Infrastruktur soll massiv investiert werden. Der Leitantrag nennt keine fixe Summe, verweist aber auf Berechnungen von Ökonomen, die einen Bedarf von gut 450 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren genannt haben. Finanziert werden sollen die zusätzlichen Investitionen auch über neue Kredite, denn es sei unrealistisch, die zusätzlichen Ausgaben durch Umschichtungen in bestehenden Haushalten zu finanzieren.
Damit ist die SPD zur Aufgabe der Schwarzen Null bereit - was von der Union aber auch von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) bislang abgelehnt wird.
Beim Thema Mindestlohn geht die SPD ebenfalls auf Konfrontationskurs mit der Union. Sie fordert "perspektivisch" einen Mindestlohn von 12 Euro statt aktuell 9,19 Euro. Esken sagte in ihrer Rede, er müsse "mindestens" bei 12 Euro liegen. Auch wollen sie eine Stärkung der Tarifbindung der Gewerkschaften, weitere Bausteine für eine umfassende Arbeitsversicherung und Reformen am HartzIV-System erreichen.
Damit hat der Parteitag der SPD-Führung für die zweite Halbzeit der Koalition ein Mandat zu weiteren Verhandlungen mit der Union gegeben.
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December 06, 2019 12:34 ET (17:34 GMT)
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