Klima- und Umweltfragen werden nach Ansicht der deutschen Richterin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Angelika Nußberger, die Justiz in Zukunft stärker beschäftigen. Die Klimaproblematik könnte mithilfe der Grundrechte zu den Gerichten gebracht werden, sagte Nußberger der Deutschen Presse-Agentur. Sie könne sich vorstellen, dass auch Prozesse wegen nicht ausreichender Klimaschutzmaßnahmen zunehmen. Nach neun Jahren scheidet die derzeitige Vizepräsidentin des Gerichtshofes zum Jahresende turnusmäßig aus.
Die Europäische Menschenrechtskonvention, die alle Mitgliedsstaaten des Europarats vor ihrer Aufnahme unterzeichnen müssen, sei ein gutes Instrument, um auf Umweltschäden zu reagieren, so die Richterin. Ein gutes Beispiel dafür sei eine Beschwerde am EGMR bereits aus den 90er-Jahren, sagte Nußberger. Damals sprach der Gerichtshof einer Spanierin rund 4,5 Millionen spanische Peseta (heute rund 35 000 Euro) zu, weil die spanischen Behörden seiner Ansicht nach nicht genug unternommen hatten, um die Frau und ihre Angehörigen vor Dämpfen aus einer Müllverarbeitungsfabrik neben ihrem Haus zu schützen (López Ostra vs. Spanien, Beschwerdenummer 16798/90).
Auch die Digitalisierung bringt neue Herausforderung für die Rechtsprechung des Gerichtshofes mit Sitz im französischen Straßburg mit sich. "Man muss viele der Standards neu denken", so Nußberger. Generell sei die Menschenrechtskonvention dafür aber ausreichend. "Meistens kann man die Grundsätze übernehmen. Sie ist so formuliert, dass sich alle Sachverhalte gut abdecken lassen." Die Verschiebungen in den Gesellschaften führe auch immer zu neuen Grundrechtskonflikten, erklärt die Richterin - dann sei eine neue Ausbalancierung notwendig.
Nußberger ist seit 2011 die deutsche Stimme am Menschenrechtsgerichtshof, seit 2017 ist die 56-Jährige auch EGMR-Vizepräsidentin. Zum 1. Januar wird die Juristin und Hochschullehrerin Anja Seibert-Fohr das Amt übernehmen. Nach dem Ende ihrer Amtszeit wird Nußberger wieder an der Universität zu Köln lehren und Deutschland in der Venedig-Kommission des Europarats, die Staaten verfassungsrechtlich berät, vertreten.
Der EGMR gehört nicht zur Europäischen Union, sondern zum Europarat. Die Staatenorganisation fördert die demokratische Entwicklung in seinen 47 Mitgliedsländern - neben den EU-Ländern gehören unter anderem auch die Türkei und Russland dem Europarat an.
Wer seine Grundrechte verletzt glaubt, kann den 1959 gegründeten EGMR anrufen. Die Hürden für eine Anerkennung sind allerdings hoch, die meisten Beschwerden werden abgewiesen. In erster Linie sollen die Nationalstaaten die Grundrechte schützen. So muss in Deutschland zunächst das Bundesverfassungsgericht einen Kläger abweisen, damit sich dieser überhaupt an Straßburg wenden kann. Trotz der hohen Hürden hat der EGMR alle Hände voll zu tun. Laut Nußberger sind derzeit rund 60 000 Fälle anhängend.
Deutschland musste im Laufe der Jahre auf Drängen des EGMR zum Beispiel sein System zur Sicherungsverwahrung von Straftätern nachbessern. Der Gerichtshof stärkte auch die Rechte von unverheirateten Vätern und entschied, dass Kruzifixe in Klassenzimmern mit der Menschenrechtskonvention vereinbar seien./ari/DP/zb
AXC0037 2019-12-27/06:35