Von Andreas Kißler
BERLIN (Dow Jones)--London hat sich laut einer Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) für die Aushandlung eines Freihandelsabkommens in eine starke Position gegenüber der Europäischen Union (EU) gebracht. Zum einen sei die jetzt gültige Rückfalllösung im Falle eines Scheiterns des Freihandelsabkommens für die EU deutlich teurer als der "Backstop" von Ex-Premierministerin Theresa May es gewesen wäre, erklärten die Kieler Ökonomen. Zum anderen habe London für die Zeit nach dem endgültigen Ausscheiden eine kluge Zollstrategie vorgelegt, die die EU unter Druck setze.
"Nach dem Ausscheiden aus der Europäischen Union wird Großbritannien nur auf wenige Produkte Zölle erheben", sagte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr. "Diese sind so schlau gewählt, dass sich das Land gleichzeitig die Versorgung durch günstige Importe aus Drittländern sichert, trotzdem hohe Zolleinnahmen verzeichnet und Exporteure aus der EU besonders betroffen wären", erklärte er zu der Analyse mit den IfW-Forschern Alexander Sandkamp und Vincent Stamer. "Großbritannien hat sich damit in eine starke Verhandlungsposition für ein Freihandelsabkommen mit der EU gebracht."
Demnach wolle das Vereinigte Königreich nach dem endgültigen Ausscheiden aus der EU nur auf knapp 800 Produkte Abgaben erheben - nur 4,8 Prozent aller 16.000 Produkte der EU-britischen Zollliste. Auf mehr als 95 Prozent der Waren würden keine Zölle erhoben. Bezogen auf den Warenwert liege der Durchschnittszoll auf Importe in das Land dann nur bei 1,2 Prozent. Damit erhebe Großbritannien deutlich geringere Zölle als die EU, die rund 80 Prozent aller Produkte mit Zöllen belege - bezogen auf den Warenwert liegt der Durchschnittszoll den Angaben zufolge bei 3 Prozent.
Dennoch würde Großbritannien damit Zolleinnahmen von Ländern außerhalb der EU von 1,4 Milliarden Euro generieren, weil vor allem volumenstarke Produkte aus den Bereichen Automobil und Textilien betroffen seien. Aufgrund der spezifischen Handelsstruktur wären Exporteure aus der EU besonders betroffen und müssten ohne ein Freihandelsabkommen 4,9 Milliarden Euro an Zöllen an das Vereinigte Königreich abführen. "Verlieren europäische Exporteure dadurch Marktanteile in Großbritannien, verursacht dies einen spürbaren wirtschaftlichen Schaden in der EU", so das IfW.
"Großbritannien setzt die EU durch seine Zollstrategie unter Druck", konstatierte Felbermayr. Nach dem Ausscheiden aus der EU werde das Königreich als Handelspartner für andere Länder attraktiver. Zusätzlicher Erfolgsdruck für die EU bestehe durch die komplexe Rückfalllösung, die sie mit Premier Boris Johnson vereinbart habe, sollte kein Freihandelsabkommen gelingen. Nordirland sei dann faktisch gleichzeitig Teil des britischen Zollgebiets und des EU-Binnenmarktes - und die EU zur Wahrung ihrer Interessen auf die britische Zollbehörde angewiesen, die sie nicht kontrollieren könne.
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January 27, 2020 04:59 ET (09:59 GMT)
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