Von Hans Bentzien
FRANKFURT/BERLIN (Dow Jones)--Die vom Europaausschuss des Deutschen Bundestags als Sachverständige berufenen Juristen haben sich überwiegend skeptisch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) geäußert. Wie aus ihren bereits veröffentlichten Stellungnahmen hervorgeht, halten sie das Urteil vom 5. Mai auf unterschiedlichen Ebenen für fehlerhaft, raten Bundestag/Bundesregierung und Deutscher Bundesbank aber trotzdem dazu, die Forderungen des Gerichts wenigsten teilweise zu erfüllen. Eine Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland halten sie für nicht ausgeschlossen.
Das Bundesverfassungsgericht wirft der EZB vor, die Verhältnismäßigkeit des Staatsanleihekaufprogramms PSPP nicht ausreichend begründet zu haben. Die Karlsruher Richter halten der EZB vor, bei der Abwägung von Nutzen und Schäden der Käufe die wirtschaftspolitischen Nebenwirkungen nicht hinreichend zu berücksichtigen. Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), der das PSPP als rechtmäßig eingestuft hatte, bescheinigen die Karlsruher Richter methodische Fehler.
Die EZB soll nach dem Willen der Karlsruher Richter binnen drei Monaten nachweisen, dass das PSPP angemessen ist. Andernfalls darf die Bundesbank als Teil des Eurosystems nicht mehr am PSPP teilnehmen. Bundestag und Bundesregierung gibt das Bundesverfassungsgericht auf, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung seitens der EZB hinzuwirken. Der Europaausschuss des Bundestags hat Juristen eingeladen, die die Politiker beim Umgang mit dem Urteil beraten sollen.
In folgenden Punkten sind sich die Professoren* weitgehend einig - es gibt allerdings Minderheitenmeinungen.
1. Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank dürfen das Urteil des Verfassungsgerichts nicht ignorieren
2. Die Bundesregierung könnte gegen die EZB-Praxis der Staatsanleihekäufe unter dem PSPP vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagen. Zwar hat dieser das PSPP schon für rechtmäßig erklärt, eine Klage wäre aber trotzdem möglich. (Allerdings hat die Bundesregierung, so weit erkennbar, gar nichts gegen das PSPP einzuwenden.)
3. Die Bundesbank darf keine Weisungen von Bundesregierung/Bundestag entgegennehmen. Das gilt sowohl für eine mögliche Aufforderung, im EZB-Rat für die Vorlage eines Verhältnismäßigkeitsnachweises zu werben, als auch für die Aufforderung, die Beteiligung am PSPP einzustellen. Manche Juristen zweifeln, ob die Bundesbank wegen ihrer vertraglichen Einbindung in das System der europäischen Zentralbanken (ESZB) überhaupt noch eine Bundesbehörde ist.
4. Die EZB darf keine Weisungen von Bundesregierung/Bundestag entgegennehmen - auch nicht die, die Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihekäufe zu überprüfen und dies zu dokumentieren. Die Mehrheit der Juristen rät, die EZB (oder die Bundesbank) um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bitten und gleichzeitig zu versichern, dass man die Unabhängigkeit der EZB zu respektieren bereit sei.
5. Die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland - weil das BVerfG den Vorrang des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in europarechtlichen Fragen missachtet hat - ist nicht von der Hand zu weisen. Die Juristen warnen aber, dass diese Eskalation weiteren Schaden verursachen würde.
6. Eine Minderheitenmeinung vertritt in vielen Punkten Dirk Meyer (Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg). Meyer schlägt unter anderem vor, dass der Europaausschuss künftig die Kaufprogramme der EZB kontrollieren sollte. Für den Fall, dass die EZB den gewünschten Nachweis nicht liefert, sieht Meyer zwei Möglichkeiten: Anstelle der Bundesbank kaufen künftig andere Zentralbanken Bundesanleihen. Oder: Anstelle der Bundesanleihen kaufen die Staaten andere Anleihen, was aber den Euro destabilisieren würde.
Als Alternativen kann Meyer sich vorstellen, dass Deutschland eine Änderung der Abstimmungsregeln im EZB-Rat dahingehend fordert, dass das Stimmgewicht des Ratsvertreters dem Anteil seines Landes am EZB-Kapital entspricht. Zudem hält er es für denkbar, dass Deutschland eine Parallelwährung einführt.
Die Anhörung findet am Montagnachmittag statt.
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Prof. Dr. Christian Calliess
Freie Universität Berlin
Prof. Dr. Claus-Dieter Classen
Universität Greifswald
Prof. Ph.D. Marcel Fratzscher
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW)
Prof. Dr. Martin Höpner
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG)
Prof. Dr. Franz C. Mayer
Universität Bielefeld
Prof. Dr. Dirk Meyer
Helmut-Schmidt-Universität
Universität der Bundeswehr
Prof. Ph.D. Jörg Rocholl
European School of Management and Technology (ESMT)
Prof. Dr. Christian Walter
Ludwig-Maximilians-Universität München
Prof. Dr. Bernhard W. Wegener
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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May 25, 2020 09:29 ET (13:29 GMT)
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