FRANKFURT (Dow Jones)--Deutschland steht nach Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Folge der Corona-Pandemie vor einer tiefen Rezession, sein Gesundheitssystem hat sich aber als gut gerüstet erwiesen und die Folgen bislang gemildert.
Sollte es zu einer zweiten Covid-19-Welle mit spürbaren Beschränkungen kommen, würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im laufenden Jahr um 8,8 Prozent sinken. Klingt die Pandemie bis Sommer tatsächlich ab, sei immer noch ein BIP-Rückgang von 6,6 Prozent zu erwarten.
Vor drei Monaten waren die Pariser Wirtschaftsforscher noch von plus 0,8 Prozent für 2020 sowie plus 1,2 Prozent im Jahr darauf ausgegangen. Jetzt rechnen sie für 2021 mit Wachstumsraten von 5,8 bzw bei einer Neuauflage der Virusgegenmaßnahmen von lediglich 1,7 Prozent.
Gutes Gesundheitssystem hat Abschwung gemildert
Bislang seien die Einschränkungen durch eine breite Anwendung von Corona-Tests und den hohen Kapazitäten kürzer und weniger streng als in anderen großen Ländern in Europa gewesen. Dies habe zwar den Konjunkturabschwung gemildert, aber Unsicherheit und geringere Nachfrage hätten in den Schlüsselsektoren, vor allem im Verarbeitenden Gewerbe, noch immer beträchtliche Auswirkungen auf Investitions- und Exporttätigkeit der Unternehmen gehabt. Eine zweite Welle würde die Vorteile einer frühen und gut organisierten Lockerung untergraben, so die OECD.
Gerade die exportorientierten Wirtschaftsbereiche werden betroffen sein. So dürften die Ausfuhren 2020 um 13,6 bzw 17,1 Prozent (je nach Szenario) einbrechen und sich im Folgejahr mit 8,5 bzw 1,4 Prozent eher langsam erholen.
Digitalisierung muss beschleunigt angegangen werden
Als hilfreich stuft die Organisation die umfangreichen staatlichen Stützungsmaßnahmen ein, die das Gesundheitssystem gestärkt und Arbeitsplätze und Unternehmen geschützt hätten. Sie mahnt aber, dass für künftige Fälle die digitale Transformation beschleunigt werden muss. Dies könne durch Ausbau der E-Government-Dienste und den Infrastrukturausbau, die Einführung digitaler Anwendungen in Kleinunternehmen und die Entwicklung von Kompetenzen in diesen Bereichen erreicht werden.
Kritische Worte zu Finanzsektor
Einen kritischen Blick wirft die OECD auf den deutschen Finanzsektor. Die Gefahr, dass sich die Rezession durch diesen verstärke und verlängere, sei angesichts der geringen Rentabilität und der schwachen Eigenkapitalausstattung der deutschen Banken besonders groß. Sie räumt aber ein, dass staatliche Eingriffe die wirtschaftlichen Folgen mildern könnten. Die Empfehlung lautet, Vorbereitungen zu treffen, um Banken gegebenenfalls auf transparente Weise zu rekapitalisieren. Dabei sollten Auflagen, wie ein angemessener Ausgleich für eingegangene Risiken, klare Bedingungen (z.B. bezüglich Dividenden) und ein vorgegebener Zeitrahmen gelten.
Längerfristige Folgen für den Arbeitsmarkt
Für die Beschäftigungslage könnte die Krise zu erheblichen Veränderungen der Arbeitsnachfrage in einzelnen Sektoren und Regionen führen, was die Vorteile der Kurzarbeit untergraben könnte. Wenn dies eintrete, seien wahrscheinlich aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik notwendig. Die Arbeitslosenquote dürfte steigen, aber verhaltener als in anderen Ländern. Die OECD rechnet für 2020 im günstigen Szenario mit 4,5 Prozent und bei einer zweiten Welle mit 4,6 Prozent sowie im kommenden Jahr mit 4,3 bzw 5,3 Prozent im Vergleich zu 3,2 Prozent 2019.
Lieferkettenprobleme als Belastung
Wenn es zu einer zweiten Corona-Welle komme, dürften Lieferkettenprobleme, die gerade die Automobilbranche behindern, zu einer größeren Gefahr werden. Denn sie bedrohe die finanzielle Überlebensfähigkeit der Zulieferer. Umstrukturierungen der Lieferketten zur Verringerung ihrer Anfälligkeit wiederum könnten eine Bremswirkung auf das langfristige Produktivitätswachstum haben. Auch für das Unternehmertum sieht die Organisation Gefahren. Sie könnte zurückgehen, wenn die Risiken und Kosten von Unternehmensinsolvenzen als zu hoch empfunden werden.
Lob gibt es für die Entscheidungen der Regierung, bei der Bereitstellung der Mittel zur Bewältigung der Krise transparent vorgegangen zu sein und dabei sichergestellt zu haben, dass befristete Programme wie die Verlängerung der Kurzarbeit und der Liquiditätshilfen eine klar definierte Dauer haben.
Klimaschutzpolitik nicht vergessen
Gleichzeitig mahnt die Organisation, dass die Covid-19-Krise nicht dazu führen dürfe, die jüngsten Fortschritte in der Klimaschutzpolitik, wie die Einführung einer CO2-Bepreisung im Verkehrs- und Gebäudesektor, zunichte zu machen. Vielmehr müssen die Wiederaufbaumaßnahmen mit Deutschlands langfristigen Dekarbonisierungszielen in Einklang stehen.
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June 10, 2020 04:23 ET (08:23 GMT)
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