Von Andrea Thomas
BERLIN (Dow Jones)--Die deutschen Wirtschaftsweisen erwarten für dieses Jahr wegen der Corona-Pandemie einen tieferen wirtschaftlichen Einbruch als zunächst erwartet. Allerdings sollte der Tiefpunkt im Sommer erreicht sein, erklärte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) in seiner neuen Prognose.
"Die Pandemie hat sich weltweit stärker ausgebreitet als zunächst erwartet und es wurden umfangreichere Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen, die teilweise noch andauern", erklärte der Sachverständigenrat in ihrem Gutachten. "Mit der Senkung der Neuinfektionszahlen und der allmählichen Lockerung der gesundheitspolitisch motivierten Einschränkungen in Deutschland sowie bei wichtigen Handelspartnern werden jedoch die Voraussetzungen für eine Erholung im weiteren Jahresverlauf geschaffen." Auch dürften sich die Stützungsmaßnahmen und beschlossenen wirtschaftspolitischen Konjunkturimpulse positiv auswirken.
Die Ökonomen erwarten für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 6,5 Prozent. Im Jahr 2021 könnte das BIP um 4,9 Prozent steigen. Damit dürfte die Corona-Pandemie den "stärksten Einbruch der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik" verursachen, erklärte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Lars Feld.
Ende März hatte der Sachverständigenrat in einem Sondergutachten für dieses Jahr drei verschiedene Szenarien errechnet. Im Risikoszenario mit einem Verlauf in Form eines ausgeprägteren V aufgrund von großflächigen Produktionsstilllegungen oder länger andauernden gesundheitspolitischen Maßnahmen hatten sie noch einen Wirtschaftseinbruch um 5,4 Prozent prognostiziert und eine Erholung von 4,9 Prozent für 2021 in Aussicht gestellt. Allerdings war die Prognose wegen der sich in Deutschland gerade ausbreitenden Corona-Pandemie mit großen Unsicherheiten verbunden.
"Der dort berechnete Tiefpunkt wird jedoch voraussichtlich noch unterschritten", erklärten die Mitglieder des Rates, die auch als Wirtschaftsweise bekannt sind. "Damit dürfte das BIP frühestens im Jahr 2022 wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie liegen."
Für das zweite Quartal erwarten die Wirtschaftsweisen einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um etwa 10 Prozent im Vergleich zum Vorquartal nach einem Rückgang von 2,2 Prozent während der ersten drei Monate in diesem Jahr.
Deutsche Exporte brechen ein
Bei den Exporten erwarten die Ökonomen in diesem Jahr einen Einbruch von 14,5 Prozent, gefolgt von einem Wachstum von 8,5 Prozent im Jahr 2021. Die globale Ausbreitung des Corona-Virus habe zu einer tiefen Rezession der Weltwirtschaft geführt und das schlechte außenwirtschaftliche Umfeld belaste die deutschen Ausfuhren daher in diesem Jahr.
Die privaten Konsumausgaben dürften in diesem Jahr um 5,5 Prozent schrumpfen und um 4,7 Prozent im kommenden Jahr zunehmen. Auf dem Arbeitsmarkt hätten die gute Ausgangslage vor der Corona-Pandemie sowie die Möglichkeit der Kurzarbeit den deutschen Arbeitsmarkt gestützt. Bis Ende des Jahres sei nicht mit einer Erholung am Arbeitsmarkt zu rechnen, so die Ökonomen. Die Arbeitslosenquote werde sich in diesem Jahr auf 6,1 Prozent erhöhen nach 5,0 Prozent im vergangenen Jahr und bei 6,1 Prozent im nächsten Jahr verweilen.
Allerdings gingen von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie erhebliche Belastungen für die öffentlichen Haushalte besonders in diesem Jahr aus. Dies resultiere aus den substanziellen Mehrausgaben des Staates in Form von Transferleistungen an Unternehmen und private Haushalte. Auch dürften sich die Steuereinnahmen "drastisch" verringern in diesem Jahr, bevor die Situation im kommenden Jahr günstiger würde. Das Finanzierungssaldo des Staates dürfte sich nach einem Überschuss von 1,5 Prozent des BIP im vergangenen Jahr in ein Defizit von 6,0 Prozent in diesem und in ein Defizit von 3,9 Prozent im Jahr 2021 verwandeln, so das Gutachten.
Der Sachverständigenrat lobte die schnelle Reaktion der Geld- und Fiskalpolitik im Frühjahr. Diese habe geholfen, sich selbst verstärkende Abwärtsprozesse zu verhindern. Das Kurzarbeitergeld stabilisiere Einkommen und verhindert einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Bereitstellung von Liquidität seitens der Europäischen Zentralbank sorge für günstige Finanzierungsbedingungen für Unternehmen, Haushalte und Staaten. Daneben sorgten Kreditgarantien, direkte Beteiligungen oder etwa Regelungen zum steuerlichen Verlustausgleich dafür, dass Unternehmen die Umsatzausfälle während der Corona-Krise besser überbrücken könnten.
Erhebliche Unsicherheiten beim Ausblick
Insgesamt unterliege der wirtschaftliche Ausblick aber einer "erheblichen" Unsicherheit. Der Rat warnte, dass mit einer deutlich länger anhaltenden Schwächephase zu rechnen sei, sollte es nicht gelingen, die Anzahl der Neuinfektionen etwa durch Smart Distancing gering zu halten, den Lockerungskurs fortzusetzen und die Unsicherheit der Unternehmen und Haushalte zu senken.
"Sollte es zu einer starken zweiten Infektionswelle kommen und würden erneute Einschränkungen notwendig, wäre ein weiterer Rückgang der Wirtschaftsaktivität wahrscheinlich", erwarten die Wirtschaftsweisen. "Führt die Pandemie zu persistenten Verhaltensänderungen, die strukturelle Anpassungen auslösen, so könnte es zudem zu einer temporären Reduktion des Potenzialwachstums kommen."
Der Euroraum sei insgesamt stark betroffen und dürfte in diesem Jahr preisbereinigt einen Wirtschaftseinbruch um 8,5 Prozent verzeichnen, deutlicher stärker als der für die USA erwartete Rückgang um 6,1 Prozent. Besonders betroffen seien Italien, Spanien und Frankreich mit einem Einbruch von über 11 Prozent.
Auch ein ungeordnetes Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und eine erneute Verschärfung der Handelskonflikte insbesondere zwischen den USA und China zählt der Sachverständigenrat zu weiteren Risiken, deren Eintreten die durch die Pandemie geschwächten Volkswirtschaften empfindlich treffen würden.
Außerdem stelle die wirtschaftliche Krise nicht zuletzt die bereits vor der Pandemie hochverschuldeten Mitgliedstaaten vor eine große Herausforderung. "Gelingt es nicht, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in Grenzen zu halten, besteht das Risiko, dass es erneut zu Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten kommt", so die Ökonomen. "Sorgen um die Stabilität und Integrität der Währungsunion könnten die Entwicklung spürbar belasten."
Chancen für eine bessere Entwicklung bestünden dann, wenn die Pandemie schneller abklinge, als derzeit erwartet werden könne. Auch sieht der Sachverständigenrat eine Chance darin, dass die umfangreichen geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen eine stärkere Wirkung entfalten als in der Prognose angenommen oder wenn politische Einigungen die Unsicherheit in anderen Konfliktfeldern verringern.
Der Sachverständigenrat besteht aus fünf Mitgliedern, dem Vorsitzenden Feld sowie Veronika Grimm, Monika Schnitzer, Achim Truger und Volker Wieland.
Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com
DJG/aat/apo
(END) Dow Jones Newswires
June 23, 2020 06:00 ET (10:00 GMT)
Copyright (c) 2020 Dow Jones & Company, Inc.