Was ist auf Instagram schon real? Einige Models zumindest nicht. Virtuelle Influencer sorgen für viel Aufregung im Netz - und könnten wegen ihrer großen Reichweite und hohen Engagement-Rate für Marken immer relevanter werden. Ein Trend, der viele Fragen aufwirft. Bermuda hatte gestern einen harten Tag: "Ich kämpfe noch gegen meinen Kater." Colonel Sanders hingegen genießt seinen Ausflug: "Hier draußen zu sein, hat mich nicht nur mit der Natur in Verbindung gebracht, sondern auch mit mir selbst." Um die Natur sorgt sich Liam Nikuro: "Australien brennt. Die Amazonasregion brennt. Wir müssen uns ernsthaft Gedanken machen, wie die globale Erwärmung unser Klima beeinflusst." Bermuda, Colonel Sanders und Liam Nikuro sind Influencer und teilen ihr Leben auf Instagram. Doch nichts davon ist echt. Der Colonel weiß nicht, was Natur ist. Liam hat keine Ahnung, wo Australien liegt, und Bermuda ist notgedrungen abstinent, denn alle drei bestehen nur aus Einsen und Nullen. Sie sind virtuelle Charaktere, die ihr digitales Leben in den sozialen Kanälen fristen. Virtuelle Influencer sind 3D-Models, die kaum noch von echten Menschen unterscheidbar sind. Sie werden häufig echten Vorbildern nachempfunden und in Software wie Poser erstellt. Mit einem fertigen 3D-Model können Designer relativ schnell realistische Standbilder und sogar kurze Videosequenzen produzieren, in denen die 3D-Figuren aus ihrem Leben erzählen. Laut Hypeauditor, einem Online-Tool zur Bewertung von Influencern, haben virtuelle Influencer schon heute im Durchschnitt eine höhere Engagement-Rate als ihre menschlichen Pendants. Damit erreichen sie vor allem eine jüngere Zielgruppe im Netz. So bieten virtuelle Influencer für Unternehmen neue Wege, ihre Produkte im Internet breit zu streuen und damit durchaus mehr Kunden zu erreichen als mit Influencern aus Fleisch und Blut. KFC hat letztes Jahr die Markenikone Colonel Sanders wieder zum Leben erweckt. Blüht uns das auch mit toten Schauspielern oder Showmoderatoren? (Screenshot: Instagram / KFC) Die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken hat mithilfe der Technologie ihrem Gründer, der seit 40 Jahren tot ist, zu neuem Leben verholfen. Nun präsentiert eine jüngere Ausgabe seiner selbst die Marke in den sozialen Netzwerken mit Kommentaren wie: "Die Technologie heutzutage ist so faszinierend." Die Kampagne der Agentur Wieden und Kennedy war ein Erfolg: 115 Millionen Mal wurde sie auf Instagram ausgespielt. Der Superstar der Szene der virtuellen Influencer ist Lil Miquela. Ihr folgen inzwischen fast zwei Millionen Follower auf Instagram und sie arbeitet mit großen internationalen Marken zusammen, darunter das Modelabel Calvin Klein oder die Schuhmarke UGG Boots. Lil Miquela vertreibt auch ihre eigene Modekollektion auf der Shopping-App Depop und sie hat schon das echte Supermodel Bella Hadid geküsst. Zumindest belegt das ein "eindeutiges" Foto. Lil Miquela gibt es seit dreieinhalb Jahren. Sie wurde entworfen von der kalifornischen Agentur Brud. Und die machte sich anfangs einen großen Spaß daraus, die Welt im Unklaren darüber zu lassen, ob es sich bei Lil Miquela um einen echten Menschen handelt - oder nicht. 2018 inszenierten sie sogar einen virtuellen Zickenkrieg zwischen Lil Miquela und Bermuda. Bermuda "outete" Lil Miquela als artifiziell und übernahm kurzzeitig ihren Kanal. Doch die beiden Frauen sind "Schwestern": Sie residieren auf der gleichen Festplatte bei Brud. Trend oder Hype? Die Arbeit mit virtuellen Influencern ist nicht unbedingt zeitsparender: "Ich brauche für einen digitalen Shot genauso lang wie für ein echtes Fotoshooting", sagt Cameron-James Wilson. Der Engländer ist der Schöpfer der Influencerin Shudu, einem virtuellen Model mit knapp 200.000 Followern auf Instagram. In der Szene gilt sie als gestalterische Referenz: Jeder Pixel sitzt. Wilson gibt offen zu, dass er sich bei seiner Schöpfung von Naomi Campbell inspirieren ließ. Anfang des Jahres postete Cameron-James Wilson auf Shudus Kanal ein Bild von ihr, das in der arabischen Ausgabe des Modemagazins Harper's Bazaar Arabia erschienen ist. Innerhalb von vier Tagen sammelte es 18.000 Likes. Cameron James-Wilson hatte es als Modefotograf früher mit echten Models zu tun. Heute kreiert er sie am Computer. Sein Vorbild für Shudu war das Topmodel Naomi Campbell. (Screenshot: The Diigitals) Cameron-James Wilson ist eigentlich Modefotograf. In seinem Job habe er sich nicht mehr wohlgefühlt, sagt er, weil die Branche sich sehr stark verändert habe: "In den analogen Zeiten mussten mir die Auftraggeber vertrauen. Heute bist du bei Shootings nur noch der, der auf den Auslöser drückt. Ständig steht jemand hinter dir und gibt Anweisungen." Heute setzt er seine Models nicht nur selbst in Szene, sondern gestaltet sie bis in die letzte Pore. Und er hat die erste Modelagentur gegründet, die virtuelle Models vermittelt. Die Vermittlung der virtuellen Models ist sein zweites Standbein, das in Zukunft für ihn immer relevanter werden könnte. Weil die Technologie zur Erstellung der 3D-Modelle immer ausgefeilter wird, könnte Wilsons digitale Handwerkskunst allerdings schneller zu Ende gehen, als ihm lieb sein kann. Avatare in der Öffentlichkeitsarbeit "Dass das Thema irgendwann kommt, war seit Second Life vorherzusehen", sagt Anders Indset, Wirtschaftsphilosoph und digitaler Vordenker: " Zeit und Geschwindigkeit sind immer etwas höher, als man wagt vorherzusehen, aber es ist eine logische Entwicklung und keine Überraschung." In welche Richtung sich der Trend entwickelt, wurde auf der weltweit größten Technikmesse Consumer Electronics Show (CES) im Januar in Las Vegas deutlich. Dort zeigte das Unternehmen Starship Labs, eine Samsung-Tochter, seine neue Plattform Neon. In ihrem Herzen arbeitet eine Software namens Core R3, die die Bewegungen von Menschen aufzeichnet und sie in bewegte 3D-Bilder umwandelt. Das Ergebnis ist täuschend echt. Die Technik lernt sogar aus 2D-Videoaufnahmen. Liam Nikuro ist der erste virtuelle Influencer mit japanischen Wurzeln mit über 15.000 Followern auf Instagram. Er hat es aufs Cover des Tokyo Weekender geschafft, der größten englischsprachigen Zeitschrift in Japan. (Screenshot: lilmiquela, Instagram / liam_nikuro) Die Demo-Avatare haken zwar, wenn man sich mit ihnen live unterhalten möchte, für die Zukunft bergen sie aber ein enormes Potenzial. Vor allem für Kommunikation, die nicht in Echtzeit erfolgt. Die Technik wird zunehmend besser und günstiger. Künstliche Doppelgänger könnten bald als Online-Trainer oder Berater ihr echtes Pendant ersetzen. Oder in der Öffentlichkeitsarbeit: Was wäre, wenn Christiano Ronaldos Avatar seine Fans bei einer Sportkonferenz begrüßt, während er selbst am anderen Ende des Planeten Fußball spielt? Sein Management könnte einfach einen PR-Text schreiben und den Avatar sprechen lassen. Es gibt bereits bekannte Persönlichkeiten, die sich virtuelle Doppelgänger leisten. Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic hat sich von dem Berliner Unternehmen Mimic Productions komplett scannen lassen und nutzt ihren identischen Avatar für ihre künstlerische Arbeit. Das tut auch der Krimiautor Sebastian Fitzek. In der Werbung für sein Hörbuch tritt er nur zur Hälfte auf. Vom Hals aufwärts ist es sein virtuelles Ebenbild, das sagt: "Ich bin ein Albtraum, der darauf wartet, dass du schläfst!", während sich dunkle Flüssigkeit, eine Animation, über seinen Kopf ergießt. Das Marketing hat längst erkannt, dass mit 3D-Models sehr flexibel gearbeitet werden kann. Für einfachere Produktionen muss nicht mehr auf die Kanaren geflogen und fotografiert oder gedreht werden. Die Bilder und Videos lassen sich komplett am Rechner erstellen. So sind selbst Sets auf dem Mond oder an ausgefallen Locations denkbar. Außerdem, das weiß auch der Fotograf Cameron-James Wilson, sind virtuelle Influencer viel pflegeleichter: "Digitale Models sind pünktlich, verlässlich und zicken nicht rum", sagt er mit einem Augenzwinkern. Auch der Philosoph Indset kann sich vorstellen, in Zukunft einen künstlichen Doppelgänger auf Veranstaltungen zu schicken, um seine Gedanken mit möglichst vielen Menschen zu teilen. Allerdings ist das für ihn nur die zweitbeste Möglichkeit: "Für mich ist der Faktor ,Mensch' entscheidend. Eigentlich möchte ich auf Veranstaltungen präsent sein", sagt er. Wie authentisch können virtuelle Influencer sein? Doch auch zu den virtuellen Influencern gehört ein menschlicher Charakter. Cameron-James Wilson denkt sogar darüber nach, ob er sein Model Shudu altern lässt oder ob sie irgendwann stirbt. "Sie hat ihre ganz eigene Dimension. Vielleicht altert sie nicht optisch, sondern wird einfach reifer." Shudu gibt mittlerweile Interviews: "Ich wünschte, jeder könnte die Realität leben, die er für sich auf Social Media erzeugt", sagt sie mit der Stimme einer echten Frau. Auch die anderen Influencer zeigen ihre Persönlichkeit: Liam Nikuro positioniert sich mit seinen Klima-Statements politisch. Bermuda lässt es gerne krachen. Emotion und Nahbarkeit sind bei Social Media der Schlüssel zum Erfolg. Nur wenn emotionale Verbindungen entstehen, bleiben die Fans auf Dauer treu. Aber gibt es ein ethisches Problem, wenn die Avatare Menschlichkeit behaupten, die sie nicht haben? Ist das Betrug? "Auf Instagram ist nichts echt", meint Wilson und spielt darauf an, dass einem schicken Foto eines Influencers 100 unvorteilhafte Aufnahmen gegenüberstehen. Und die bekommt niemand zu Gesicht. Nur im Ausnahmefall zeigen ein paar selbstbewusste Instagrammer unter Hashtags wie instagramvsreality Vergleichsbilder, die auch ihre ungünstige Seite zeigen. Der Mensch ist zweifellos in der Lage, auch zu einem virtuellen Influencer eine emotionale Beziehung aufzubauen. Das belegen die Kommentare auf den Accounts von Lil Miquela. Auch wenn sie nicht existiert, hat sie eine reale Wirkung. Wirtschaftsphilosoph Anders Indset fordert: "Wir brauchen eine neue Definition von Echtheit. Wenn eine Maschine Empathie ausstrahlt, die ich spüre, dann ist das genauso real, wie wenn es von einem Menschen kommt."Den vollständigen Artikel lesen ...