
DJ EZB/Weidmann sieht derzeit keinen Lockerungsbedarf - Zeitung
FRANKFURT (Dow Jones)--EZB-Ratsmitglied Jens Weidmann sieht derzeit keinen Bedarf für eine weitere geldpolitische Lockerung seitens der Europäischen Zentralbank (EZB) und warnt ausdrücklich davor, überzogene Erwartungen an den Märkten zu schüren. "Der geldpolitische Kurs ist zurzeit angemessen", sagt Weidmann im Interview der Börsen-Zeitung. Die wirtschaftliche Erholung setze sich fort und auch der neuerliche Anstieg der Corona-Infektionszahlen stelle das EZB-Basisszenario bislang nicht infrage. Der EZB-Rat solle sich auch "nicht vorfestlegen oder Erwartungen schüren, von denen wir dann meinen, sie erfüllen oder gar übertreffen zu müssen".
Mit seinen Aussagen schaltet sich Weidmann ein in die zunehmende und kontroverse Debatte über eine weitere Lockerung der ohnehin bereits ultraexpansiven Geldpolitik. Am Dienstagabend hatte EZB-Chefvolkswirt Philip Lane gesagt, dass es der "umsichtigere Ansatz" sein könnte, durch zusätzliche geldpolitische Vorkehrungen die Inflationsdynamik anzukurbeln. Das wurde verbreitet als bislang klarstes Signal für eine weitere EZB-Lockerung interpretiert. Einige andere Euro-Notenbanker dagegen mahnen zur Vorsicht.
Hintergrund der Debatte ist, dass die Euro-Wirtschaft schon wieder an Schwung verliert und vielerorts die Infektionszahlen und in der Folge die Eindämmungsmaßnahmen zunehmen. Zugleich ist die Inflationsrate unter Null gerutscht. Marktakteure erwarten fast unisono spätestens zum Jahreswechsel eine Ausweitung des Pandemiekaufprogramms PEPP.
Weidmann dämpft nun solche Konjunktursorgen und stemmt sich gegen die Markterwartungen. Die Euro-Wirtschaft habe sich zuletzt sogar rascher als erwartet erholt und die Erholung gehe trotz der jüngsten Abschwächung weiter. "Das Vertrauen in unser Basisszenario hat zugenommen", sagt er. Daran ändere auch das jüngste Infektionsgeschehen nichts: "Ein gewisses Wiederaufflackern des Infektionsgeschehens wäre durchaus im Einklang mit unserer Prognose." Am Dienstag hatte sich EZB-Präsidentin Christine Lagarde vor allem mit Blick auf Frankreich und Spanien besorgt gezeigt.
Weidmann sorgt sich aktuell auch nicht sonderlich wegen der jüngsten Aufwertung des Euro. "Das würde ich nicht überbewerten", sagt er. Die Aufwertung habe auch mit der besseren konjunkturellen Entwicklung im Euroraum und dem positiven Signal zu tun, das von den EU-Maßnahmen gegen die Krise ausgegangen sei: "Wir sollten die Entwicklung des Euro nicht isoliert von den treibenden Faktoren betrachten."
Durchaus in Sorge ist Weidmann allerdings wegen der stockenden Verhandlungen über den 750 Milliarden schweren Corona-Wiederaufbaufonds der EU: "Wenn der Wiederaufbaufonds ,Next Generation EU' jetzt nicht oder deutlich später käme, könnte das zu merklichen Marktreaktionen führen und die konjunkturellen Perspektiven trüben." Generell sieht Weidmann primär die Fiskalpolitik in der Pflicht, sollte die wirtschaftliche Lage weitere wirtschaftspolitische Hilfen erfordern.
Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht warnt Weidmann davor, wie von einigen Notenbankern angeregt die Sonderregeln und die große Flexibilität von PEPP auf das reguläre Staatsanleihekaufprogramm PSPP zu übertragen und die im PSPP enthaltenen Garantien zu schleifen. "Wenn man diese Grenzen jetzt großflächig aufweichen würde, könnte sich ein juristisches Problem ergeben." Karlsruhe habe der EZB "keinen Persilschein ausgestellt".
Kritisch äußert sich Weidmann zur Idee des Average Inflation Targeting, also der Verfolgung eines durchschnittlichen Inflationsziels, wie es die US-Notenbank Fed nun praktiziert. In der Praxis werde kaum eine Zentralbank riskieren, nach Jahren eines überschießenden Inflationsziels die Zinsen stark anzuheben und eine Rezession zu riskieren, um unterhalb des Ziels zu gelangen: "Ein Average Inflation Targeting könnte also asymmetrisch ausgestaltet sein. Womöglich wäre dann am Ende die Inflationsrate im Durchschnitt höher als ursprünglich gedacht."
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October 07, 2020 09:09 ET (13:09 GMT)
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