DJ OECD warnt Deutschland vor zu schneller Rückkehr zur Schuldenbremse
BERLIN (Dow Jones)--Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat die Corona-Krisenbekämpfung durch die Bundesregierung grundsätzlich gelobt, jedoch vor einer zu schnellen Rückkehr zur Schuldenbremse gewarnt. Der fiskalpolitische Kurs in diesem Jahr sei mit rund 140 Milliarden Euro an Ausgaben und Steuersenkungen (4,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) "angesichts des dramatischen Konjunktureinbruchs angemessen", heißt es im OECD-Wirtschaftsbericht 2020 für Deutschland.
Beim Tempo der Haushaltskonsolidierung sei jedoch Umsicht geboten, "da ein rascher Entzug der Impulse die Erholung gefährden könnte, vor allem im Fall einer schwachen Wachstumsdynamik". Dann wären sogar zusätzliche Hilfsmaßnahmen nötig.
Die Schuldenbremse, die für den Bund eine strukturelle Defizitgrenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorsieht, soll ab 2022 wieder in Kraft treten. Damit aber "wäre ein wesentlich drastischerer Defizitabbau erforderlich als nach der globalen Finanzkrise" 2008/09, so der Bericht. Möglich wäre stattdessen eine gelockerte Schuldenbremse mit höherem Ausgabenniveau - was sowohl die Konjunktur ankurbeln würde, als auch den enormen Sanierungs- und Investitionsstau in Deutschland abtragen helfen könnte.
Banken wegen mehr Unternehmensinsolvenzen risikoanfällig
Dennoch sollte die Risikoanfälligkeit der Banken genau überwacht werden, da die Privat- und Unternehmensinsolvenzen zunehmen dürften, warnen die Experten. Tatsächlich erreichten die Firmenpleiten wegen der ausgesetzten Insolvenzantragspflicht in diesem Jahr ein Rekordtief.
Großen Nachholbedarf sieht die OECD insbesondere bei der Digitalisierung - wo Deutschland im internationalen Vergleich im Rückstand sei - und beim Klimaschutz: Die Infrastrukturausgaben dazu seien bislang "unzureichend" gewesen, könnten mit dem Konjunkturpaketen nun aber "ein wesentlicher Motor der Erholung" werden. Gerade im ländlichen Raum sei schnellerer Zugang zu Internet und mobiler Datennutzung nötig. Auch bei der digitalen Verwaltung, in Schulen und bei der Ausbildung der Lehrer gebe es Defizite. Bei der Nutzung fortgeschrittener Informations- und Kommunikationstechnik seien deutsche Unternehmen seien im OECD-Vergleich im Rückstand.
OECD fordert früheren Kohleausstieg
Beim Kohleausstieg fordert die OECD mehr Tempo - dieser sollte "schon früher" als 2038 abgeschlossene werden. Möglich wäre dies durch stärkere Preissignale, die auch ein effizienteres Abfallmanagement fördern würden. Die energetische Gebäudesanierung müsste um mindestens 50 Prozent ausgeweitet werden, um das für 2050 gesetzte Ziel eines nahezu klimaneutralen Baubestands zu erreichen. Im Verkehrssektor sieht die OECD nicht, dass Deutschland ihr 2030er-Klimaziel erreicht und fordert schärfere Maßnahmen.
Schlüsselbereiche bei den Investitionen seien neben den Stromnetzen auch der soziale Wohnungsbau und die frühkindliche Bildung. "Zwanzig Jahre Investitionsschwäche haben hier eine Lücke gerissen", so der Wirtschaftsbericht. Dazu müssten nun Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich gestrafft, Planungsverantwortliche im öffentlichen Sektor bessergestellt werden.
Umfassende Steuerreform nötig
Auch bei der Besteuerung sehen die Autoren Nachholbedarf. Die Besteuerung der Erwerbseinkommen müsse verringert, Erbschaftsteuerbefreiungen im Gegenzug abgeschafft werden. Auch sollte die Bundesregierung die ermäßigten Mehrwertsteuersätze auf den Regelsatz anheben sowie Umweltsteuern, Grundsteuern und die Besteuerung von Kapitaleinkünften erhöhen. "Durch die Verringerung der hohen effektiven Steuersätze könnte eines der Hindernisse für den Wechsel in besser entlohnte Beschäftigungen beseitigt werden", sind die Experten überzeugt. Ein weiteres Problem, das die Produktivität beeinträchtigt: In keinem anderen OECD-Land gelten für einen so hohen Anteil der Arbeitskräfte besondere Berufszulassungsregeln.
Kritik übt der OECD-Bericht auch an einer Wohnungsbaupolitik, die die Mobilität der Arbeitskräfte begrenze. Zwar hätten die 2015 eingeführten Mietpreisbremsen bislang keinen negativen Effekt auf die Bautätigkeit gehabt. "Durch die Unsicherheit im Hinblick auf eine eventuelle künftige Ausweitung der Regelung könnte sich das Wohnraumangebot aber auf längere Sicht verringern", so der Bericht. Nichts abgewinnen können die Experten dem Berliner Mietendeckel: Dieser drohe die Mobilität "zu behindern".
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December 08, 2020 06:00 ET (11:00 GMT)
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