DJ POST-BREXIT-ABKOMMEN/Einschätzungen aus Wirtschaft und Politik
FRANKFURT (Dow Jones)--Am Heiligabend haben sich die Europäische Union und Großbritannien doch noch ein Abkommen für die künftigen Handelsbeziehungen nach dem Ende der Übergangsphase an Silvester 2020 verständigt. Nachfolgend erhalten Sie einen Überblick über die Reaktionen aus Politik und Wirtschaftsverbänden zu den Vereinbarungen, aber auch den noch offenen bzw gar nicht enthaltenen Punkten:
Kfz-Branche sieht mehr Bürokratie und Regulierungsaufwand
Der europäische Autobranchenverband Acea zeigt sich erleichtert, weil damit die katastrophalen Effekte eines No-Deakl-Brexits abgewendet worden seien. Schließlich sei die europäische Autobranche die am stärksten integrierte Industrie mit ihren komplexen Lieferketten, so Generaldirektor Eric-Mark Huitema. Allerdings stünden noch viele Details aus und vor den Unternehmen lägen große Herausforderungen in Form der neuen Grenzprozeduren. Im Vergleich zur heutigen Situation bringt der Deal viel mehr Bürokratie und Regulierungsaufwand mit sich. Das handelsvolumen zwischen EU und Großbritannien beläuft sich bei Autos auf 54 Milliarden und bei Kfz-Teilen auf 14 Milliarden Euro, so Acea.
VDMA: EU und Großbritannien müssen enge Partner bleiben
Die Maschinen- und Anlagenbauer sind nach Aussage des Hauptgeschäftsführers des Branchenverbands VDMA, Thilo Brodtmann, erleichtert über die Einigung. Brodtmann erwartet aber, dass der Handel zum Beispiel aufgrund sich auseinander entwickelnder Standards deutlich schwieriger wird. Der Verband hoffe aber, dass Großbritannien und die EU enge wirtschaftliche und politische Partner bleiben. Denn es gebe Herausforderungen, wie den Klimawandel oder die Pandemie, die nur gemeinsam bewältigt werden können.
Mützenich (SPD) sieht Brexit trotz Einigung als schweren Fehler
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat die EU-Kommission für deren Verhandlungsführung im Brexit-Streit gelobt. "Dass ein harter Brexit abgewendet werden konnte, ist der guten Verhandlungsführung der EU und dem gemeinsamen Willen der Mitgliedsstaaten geschuldet", sagte Mützenich in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland - RND. "Gut ist, dass die geltenden Schutzvorschriften nicht unterlaufen werden dürfen und ein Schiedsmechanismus Verstöße regeln soll", so der SPD-Politiker. "Schwierig bleiben die Fragen der Dienstleistungen. Und es ist bitter, dass das Erasmus-Programm für Studierende am Ende des Jahres auslaufen wird", erklärte Mützenich. "Der Brexit bleibt trotz der Einigung in letzter Minute ein schwerwiegender Fehler und ich hoffe, dass die nächste Generation Europa und Großbritannien wieder stärker zusammenführen wird." (RedaktionsNetzwerk Deutschland - RND).
Merkel spricht von historischer Bedeutung
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte, die Einigung sei "von historischer Bedeutung". Die Bundesregierung werde den Abkommenstext nun intensiv prüfen. Es werde rasch klar sein, "ob Deutschland das heutige Verhandlungsergebnis unterstützen kann. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir hier ein gutes Resultat vorliegen haben", erklärte Merkel.
VCI: Wichtige Grundlage für eine enge Zusammenarbeit
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) ist erleichtert über die Einigung in letzter Minute, wodurch das Schlimmste verhindert worden sei. Die wirtschaftlichen Konsequenzen wären in Corona-Zeiten und sich dramatisch verändernden Weltmärkten verheerend gewesen. Trotz vieler offener Fragen sei wichtig, dass der Grundstein für eine künftige enge Zusammenarbeit gelegt werden konnte, statt die Kluft in Europa weiter zu vergrößern. Die Exporte der Branche über den Ärmelkanal beliefen sich 2019 auf knapp 10 Milliarden Euro. Das entspricht etwa dem Volumen der Exporte nach China und der Hälfte der Ausfuhren in die USA. Die Importe von der Insel summierten sich auf 6,6 Milliarden Euro.
Bankenpräsident sieht wichtigen Schritt, Marktzugang aber offene Frage
Die Einigung zwischen EU und Großbritannien ist ein wichtiges, positives Signal für die künftigen Beziehungen beider Wirtschaftsräume, sagte Hans-Walter Peters, der Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken. Zeit um sich zurückzulehnen gebe es allerdings nicht. "Viele für die Finanzindustrie zentrale Themen werden in dem Abkommen leider nicht aufgegriffen. Wie der gegenseitige Marktzugang bei Finanzdienstleistungen aussehen soll, bleibt in den meisten Fällen weiterhin unklar. Hier brauchen wir schnellstmöglich Klarheit", so Peters.
BGA: Beste Lösung unter den schlechten
Das ist nun kurz vor Torschluss noch zu einem Abkommen kommt, ist unter allen schlechten Lösungen noch die beste, so Präsident Anton Börner vom Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Deshalb gebe es auch trotz Erleichterung nichts groß zu bejubeln. Mit dem nun Beschlossenen müssten beide Seiten jetzt leben. Besonders bitter sei, dass die britische Regierung keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in diesen unsicheren Zeiten wünscht. Immerhin sorge das Abkommen dafür, nicht auf WTO-Regeln zurückzufallen. Nichtsdestotrotz werde sich die zukünftige Zusammenarbeit stark verändern. Ob es auch hilft, das befürchtete Chaos zum Jahreswechsel abzumildern, werde sich noch zeigen.
VDA: Handelsvertrag sei "das beste nun erreichbare Szenario"
Die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, zeigt sich erleichtert über das Zustandekommen des Abkommens. "Mit dem bekannt gewordenen Ergebnis ist das Risiko eines 'No-Deals' ausgeräumt, und die Unternehmen können sich endlich auf die Umsetzung eines Freihandelsabkommens einstellen", erklärte Müller. Der Handelsvertrag sei "das beste nun erreichbare Szenario".
Fischerei-Verband: Schwarzer Tag für die europäische Fischerei
Scharfe Kritik kam vom Präsidenten des Deutschen Fischerei-Verbands, Gero Hocker. "Der 24.12.2020 wird als schwarzer Tag für die europäische Fischerei, die Fischer und ihre Familien sowie die Küstenregionen in Europa und in Deutschland in die Geschichtsbücher eingehen." Die deutschen Betriebe verlören einen historisch gewachsenen Status quo in der Verteilung der Fangrechte, die britischen Fischer seien hingegen die klaren Gewinner der Verhandlungen. Hocker sieht das Ergebnis als "Schlappe für die Bundesregierung, die es nicht vermocht hat, die deutschen Betriebe vor den Auswirkungen des Brexit zu schützen".
BVR: Ökonomische Vernunft hat sich durchgesetzt
Zu großer Erleichterung im deutschen Mittelstand dürfte die Einigung nach Meinung von Marija Kolak, der Präsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), führen. "Die ökonomische Vernunft hat sich gegen die populistische Kurzsichtigkeit durchgesetzt." Bei einem Scheitern wären es vor allem für Großbritannien, aber auch für die EU wäre das langfristig mit hohen und gleichzeitig vermeidbaren Belastungen verbunden gewesen.
McAllister: Handel wird künftig nicht mehr so reibungslos ablaufen können
Nach Ansicht des Brexit-Beauftragten des EU-Parlaments, David McAllister (CDU), wird es trotz des Handelsabkommens "weitreichende Folgen für die Menschen, Unternehmen und öffentliche Verwaltungen geben". Das betreffe Visa-Fragen für EU-Bürger, den Handel, der "nicht mehr so reibungslos wird ablaufen können, wie wenn wir gemeinsam dem Binnenmarkt und der Zollunion angehören". Deshalb müssten sich Unternehmen und Behörden auf mehr Bürokratie im Warenverkehr einstellen." Aus Sicht von McAllister fehlt in dem Abkommen eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit in außenpolitischen Fragen. Für die noch ausstehende Zustimmung des EU-Parlaments zeigt sich McAllister optimistisch: "Wir sind in der politischen Verantwortung."
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December 28, 2020 02:00 ET (07:00 GMT)
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