BRÜSSEL (dpa-AFX) - In der Corona-Krise sollen die EU-Staaten wohl auch nächstes Jahre freie Hand zum Schuldenmachen bekommen, um ihre Wirtschaft zu unterstützen. Die europäischen Schulden- und Defizitregeln sollten nach jetzigem Stand auch 2022 ausgesetzt bleiben, erklärte die EU-Kommission am Mittwoch. Wichtig sei, die Wirtschaftshilfen nicht zu schnell zurückzufahren. Wie es grundsätzlich mit den Regeln weiter geht, ist offen.
Nach dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt dürfen die Mitgliedsstaaten ein Haushaltsdefizit von nicht mehr als 3 Prozent und eine Schuldenquote von nicht mehr als 60 Prozent haben, jeweils gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Diese Regeln wurden jedoch zu Beginn der Corona-Krise vor einem Jahr ausgesetzt, damit die Regierungen ihrer Wirtschaft unter die Arme greifen können. Dafür wurde die im Pakt vorgesehene sogenannte allgemeine Ausweichklausel für den Krisenfall genutzt. Nun geht es darum, wann die Zügel wieder angezogen werden könnten.
Die zuständigen EU-Kommissare Valdis Dombrovskis und Paolo Gentiloni schlugen als Anhaltspunkt dafür die Rückkehr zu einer Wirtschaftsleistung wie 2019 vor, also vor der Krise. Nach der jüngsten Konjunkturprognose wird dies in der EU nicht vor Mitte 2022 erwartet. "Auf dieser Grundlage wird die allgemeine Ausweichklausel auch 2022 aktiviert bleiben, aber nicht mehr 2023", sagte Dombrovskis. Ihre offizielle Empfehlung dazu will die Kommission aber erst auf Grundlage der erwarteten Konjunkturdaten im Mai abgeben.
Dombrovskis nannte als zentralen Punkt: "Die Fiskalpolitik muss in diesem und im nächsten Jahr unterstützend bleiben. Die Unterstützung muss so lange währen, wie sie gebraucht wird, und wir sollten es vermeiden, sie zu früh zurückzuziehen." Doch sollten die Maßnahmen schnell, befristet und gezielt sein.
Die Mitgliedsstaaten sollten bei ihren Konjunkturmaßnahmen den milliardenschweren europäischen Corona-Aufbaufonds RRF nutzen, denn dieser vergibt Geld zum Teil als Zuschüsse, die die nationale Schuldenlast nicht vergrößern. "Wir sollten diese einzigartige Chance nicht verschwenden", mahnte Dombrovskis.
Bereits 2022 müssten die Länder in ihrer nationalen Haushaltspolitik differenziert vorgehen, fügte der Kommissionsvize hinzu. Länder mit hohem Schuldenstand sollten "zu vorsichtigerer Politik" zurückkehren und die RRF-Zuschüsse für Investitionen nutzen.
Gentiloni bekräftigte, dass die im vorigen Jahr begonnene Überprüfung zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorerst weiter auf Eis liegt. Sie werde neu gestartet, sobald die wirtschaftliche Erholung sich verfestige, was man für den den Sommer erwarte. Die Kommission sei offen für diverse Szenarien einschließlich einer gesetzlichen Änderung der Regeln, sagte Dombrovskis. Wichtig sei ein Konsens. Es dürfe nicht zu einer jahrelangen Debatte kommen, die die Gemeinschaft spalte.
Die hohen Verschuldungsquoten etwa in Italien oder Griechenland schüren vor allem in Deutschland große Sorge. Der CSU-Europapolitiker Markus Ferber kritisierte die Ankündigungen der Kommission. "Wir müssen sehr aufpassen, dass die Corona-Krise nicht direkt in die nächste Schuldenkrise führt", warnte Ferber. Nötig sei eine Exit-Strategie in der Fiskalpolitik, ähnlich wie beim Lockdown. Der Grünen-Finanzexperte Sven Giegold hielt dem entgegen: "Die Verlängerung der Ausweichregeln des Stabilitätspakts ist ein richtiger und notwendiger Schritt. Es wäre fatal, in die Corona-Krise hinein zu sparen."/vsr/DP/eas