KABUL/BERLIN/WASHINGTON (dpa-AFX) - Unter Warnungen vor Terroranschlägen in der afghanischen Hauptstadt Kabul steuern die militärischen Rettungsflüge von dort auf ein Ende zu. Die Bundeswehr flog am Donnerstag mit einem ihrer letzten Evakuierungsflüge 150 weitere Menschen aus. Belgien, Dänemark, Polen und Kanada stellten ihre Evakuierungen bereits ein, die Niederlande planten das noch für Donnerstag, Frankreich für Freitag. Der Andrang am Flughafen stieg noch einmal, wie ein Augenzeuge der Deutschen-Presse Agentur berichtete. Die Menschen stünden an einem Tor "so eng aneinander wie Ziegel einer Mauer", es gehe keinen Meter voran.
Die Terrordrohungen vor Ort hätten sich "massiv verschärft", sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Evakuierungen seien in der "hektischsten, gefährlichsten, sensibelsten Phase". Großbritanniens Staatssekretär im Verteidigungsministerium, James Heappey, sprach von der Drohung eines "ernsthaften, unmittelbaren, tödlichen Angriffs" binnen Stunden. Außerhalb des Flughafen kam es zu einer Explosion, wie Pentagonsprecher John Kirby am Donnerstag auf Twitter schrieb. Über mögliche Opfer wurde zunächst nichts bekannt.
Nach Angaben des russischen Botschafters vor Ort kamen im Chaos am Flughafen in den vergangenen Tagen bereits circa 50 Menschen ums Leben. "Die Amerikaner können dort tatsächlich nichts sicherstellen", sagte Dmitri Schirnow im russischen Staatsfernsehen.
Kanzlerin Angela Merkel sagte ihre für Samstag bis Montag geplante Reise nach Israel wegen der dramatischen Entwicklung in Afghanistan ab. Die Entscheidung sei in Absprache mit dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennet getroffen worden, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.
Seit der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban versuchen Tausende Menschen, aus Afghanistan zu fliehen. Seit mehr als einer Woche versammeln sie sich rund um verschiedene Eingänge des Flughafens, um auf einen Evakuierungsflug zu kommen. Im übermittelten Video eines Augenzeugen sieht man in der prallen Sonne Menschen mit Dokumenten in der Hand winken. In der Menge sind auch Kinder und Frauen zu sehen, man hört Babys weinen.
Die Bundeswehr wollte am Donnerstag noch mit vier Flugzeugen Menschen aus Kabul ausfliegen. Bis Freitag sollten auch deren militärische Kräfte nach dpa-Informationen weitgehend abgezogen sein. Mit zivilen Flügen will die Bundesregierung aber auch nach dem geplanten Ende des US-Militäreinsatzes am 31. August weiterhin deutsche Staatsbürger und schutzbedürftige Afghanen außer Landes bringen. Es geht dabei um mehrere tausend Menschen. Eine Vereinbarung mit den Taliban diesbezüglich wurde bereits getroffen.
Nach Angaben von Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn wurden bisher 5200 Menschen aus 45 Nationen von der Bundeswehr ausgeflogen. Darunter seien 4200 Afghanen und 505 deutsche Staatsbürger. "Wir evakuieren bis zur letzten Sekunde", schrieb das Verteidigungsministerium auf Twitter. Der Einsatz wird nach dpa-Informationen ohne Unterbrechung auch von einem Team des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Kabul unterstützt.
Das US-Militär flog binnen 24 Stunden erneut mehr als 13 000 Menschen aus. Nach Angaben des Weißen Hauses flogen die USA und ihre Partner mehr als 95 000 Menschen aus. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im pfälzischen Ramstein landeten dabei bis Donnerstag mehr als 14 500 Evakuierte. Katar teilte mit, dass bisher mehr als 40 000 Menschen zunächst in das Golf-Emirat gebracht worden seien, darunter Tausende auf Gesuch etwa von Nichtregierungsorganisationen, Medienhäusern und Bildungseinrichtungen.
Unterdessen brechen immer mehr Afghanen in Richtung Pakistan auf. Aktuell überquerten täglich mindestens 10 000 Afghanen die Grenze bei Spin Boldak/Chaman, sagte ein Grenzbeamter der dpa. Zuvor seien es an normalen Tagen etwa 4000 gewesen. Die meisten Flüchtlinge seien auf dem Weg zu Verwandten in Städten und Regionen unweit der Grenze. Der zweite wichtige Grenzübergang nach Pakistan ist derzeit nur eingeschränkt geöffnet.
Pakistan hat seit 40 Jahren Millionen afghanischer Flüchtlinge aufgenommen. Zu Spitzenzeiten waren laut UN vier bis fünf Millionen afghanische Flüchtlinge in dem Land. Aktuell beherbergt Islamabad etwa 1,4 Millionen Afghanen, die als Flüchtlinge offiziell registriert sind, und etwa 600 000 undokumentierte Afghanen.
Auch die Balkanländer Albanien und Kosovo erklärten ihre Bereitschaft, insgesamt etwa 6000 Menschen zumindest vorübergehend aufzunehmen. Die EU-Innenminister wollen kommenden Dienstag zur Lage in Afghanistan beraten. Dabei soll es auch um Migrationsbewegungen in Richtung Europa gehen./mfi/DP/he