DJ DIW sieht Inflationsgefahr "von psychologischer Seite"
Von Andreas Kißler
BERLIN (Dow Jones)--Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht Gefahren aus der seit dem Sommer sprunghaft gestiegenen Inflationsrate in Deutschland und dem gesamten Euroraum vor allem "von psychologischer Seite" drohen. Derzeit trügen vor allem die höheren Energiepreise zur Gesamtinflation im Euroraum bei - mit knapp 50 Prozent. Die klassischen Inflationstreiber wie Lohndruck, Konsum oder Produktionskosten entwickelten sich hingegen eher moderat und wirkten nur temporär, hieß es in einer DIW-Studie. "Ein Risiko geht jedoch von den Inflationserwartungen aus, die eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen könnten", erklärte das Institut.
"Das, was die Inflation derzeit treibt, sind vorübergehende Effekte, die aber leider alle gleichzeitig zusammenkommen", erklärte DIW-Ökonomin Kerstin Bernoth, die zusammen mit ihrem Kollegen Gökhan Ider die wesentlichen Preistreiber untersucht und zusätzlich die Effekte der Pandemie-Konjunkturpakete auf die Inflation berechnet hat. Die Effekte der Konjunkturpakete, die die Inflation über die nächsten zwei bis drei Jahre verteilt um 0,6 bis 1,7 Prozentpunkte schüren werden, laufen demnach in absehbarer Zeit aus. Auch Lieferengpässe, die derzeit die Kosten in der Produktion in die Höhe schießen lassen, sollten sich im kommenden Jahr auflösen.
Von Angebotsseite sei allein deswegen weniger Preisdruck zu erwarten, weil die Inflation bei den Dienstleistungen, die zwei Drittel der Kerninflationsrate ausmachen, weiterhin bei unter 1 Prozent liegt. Auch der Lohndruck und die Konsumneigung entwickelten sich bisher moderat. Das DIW geht daher davon aus, dass die Inflation noch mehrere Monate erhöht bleibt, sich aber abschwächt, wenn die temporären Effekte nachlassen. "Gefahr droht eher von den Erwartungen, zu der auch gerade die alarmistische Berichterstattung beiträgt", erklärte Bernoth.
Gingen Bevölkerung und Unternehmen davon aus, dass die Preise weiter so steigen, würden die Menschen Käufe vorziehen und höhere Löhne fordern. Die Unternehmen wiederum würden auf ihre Preise aufschlagen, wenn sie damit rechneten, höhere Löhne und höhere Erzeugerpreise zahlen zu müssen. Dies könnte eine klassische Lohn-Preis-Spirale in Gang setzten, die nach Ansicht von Bernoth weniger auf tatsächlichen strukturellen Faktoren als auf einer psychologischen Dynamik basiert. "Höhere Inflationserwartungen könnten dann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden und die tatsächliche Inflation ankurbeln", warnte die Ökonomin.
Die Europäische Zentralbank solle die Entwicklung dieser Erwartungen genau beobachten und sich rechtzeitig für den Fall einer Lohn-Preis-Spirale wappnen, "möglichst jetzt schon kommunikativ gegensteuern", riet Bernoth. Letztlich sei es aber nicht nur die Aufgabe der Zentralbank, sondern auch der Politik und Wissenschaft, die Öffentlichkeit über die Ursachen der derzeitigen Inflation faktenbasiert zu informieren, um die Inflationserwartungen solange wie möglich auf einem angemessenen Niveau zu halten.
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October 20, 2021 05:08 ET (09:08 GMT)
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