DJ Raffelhüschen: EU finanziell nicht auf demografische Alterung eingestellt
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die wenigsten Länder der EU sind nach Aussage des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen darauf eingestellt, dass die altersbedingten Staatsausgaben durch den Prozess der demografischen Alterung stark zunehmen werden. In einer Veranstaltung der Stiftung Marktwirtschaft kritisierte Raffelhüschen, dass der vom aktuellen Aging Report der EU vermittelte Eindruck der Nachhaltigkeit der französischen, italienischen und spanischen Staatsfinanzen auf optimistischen Annahmen hinsichtlich der Reform ihrer Rentensysteme beruht.
"Die gute Stellung Frankreichs, Italiens und Spaniens wundert uns", sagte Raffelhüschen. Der Ökonom hat neben der expliziten auch die implizite Verschuldung der EU-Länder und die voraussichtliche Entwicklung der Ausgaben für Rente, Pflege, Gesundheit und Ausbildung bis 2070 untersucht. Dabei hat er herausgefunden, dass die finanzielle Nachhaltigkeit dieser drei Länder höher ist als die Deutschlands. Grund sind die in diesen Ländern für die Jahre 2030 bis 2040 beschlossenen Rentensenkungen.
So soll das Niveau der italienischen Bruttorente gemäß Parlamentsbeschluss bis 2070 auf 45,6 (2019: 60,8) Prozent des Bruttodurchschnittslohns reduziert werden, Frankreichs auf 27,9 (40,9) Prozent und Spaniens auf 29,4 (60,0) Prozent. Deutschlands Zahlen basierten dagegen auf der Annahme einen Rentenniveaus 2070 von 39,1 (41,8) Prozent. Italiens Nachhaltigkeitslücke betrüge dann 145 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), Frankreichs 210 Prozent, Spaniens 198 und Deutschlands 164. "Die Frage ist: Wie glaubwürdig ist das?", meint Raffelhüschen.
Der Finanzwissenschaftler weist darauf hin, dass Italien schon einmal starke Rentenkürzungen beschlossen, diese dann aber wieder "zurückgepfiffen" habe. Aber Deutschland ist nach seiner Aussage nicht in der Position, den Zeigefinger zu heben, weil auch hier Rentenreformen verwässert worden seien - zum Beispiel die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre durch die abschlagsfreie Rente mit 63 für Personen mit mindestens 45 Beitragsjahren.
Raffelhüschen hat ausgerechnet, wie sich die Nachhaltigkeitslücke entwickeln würde, wenn die Renten bis 2070 nicht in einem noch nie dagewesenen Ausmaß, sondern nur um 10 Prozent gesenkt würden. Deutschlands Lücke bliebe dann bei 164 Prozent, Frankreichs stiege auf 353 Prozent, Italiens auf 259 Prozent und Spaniens auf 698 Prozent.
Sein Fazit: "Mit ausgesetzten und kaum umsetzbaren Reformen ist das demografische Problem nicht zu lösen. Es ist Zeit zum Handeln - nicht irgendwann, sondern sofort und verlässlich."
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December 13, 2021 08:11 ET (13:11 GMT)
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