DJ Berenberg: EZB sollte Auswirkungen von Liquiditätsentzug abwarten
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) hat aus Sicht von Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding gute Gründe, an der für den Fall einer "Normalisierung" der Geldpolitik geplanten Schrittfolge festzuhalten. Danach will sie erst den Prozess der Bilanzvergrößerung via Anleihekauf beenden, ehe sie in einem zweiten Schritt den Leitzins erhöht. Schmieding geht es dabei weniger um die ungewollten Nebenwirkungen von Staatsanleihekäufen, sondern darum, wie geldpolitische Maßnahmen auf den Geldmarktzins wirken.
Schmieding weist darauf hin, dass die EZB drei Leitzinsen festlegt: einen Einlagensatz (derzeit minus 0,50 Prozent), ihren Hauptrefinanzierungssatz (0,00 Prozent) und einen Spitzenrefinanzierungssatz (0,25 Prozent). Der Einlagen- und der Spitzenrefinanzierungssatz bilden einen groben Korridor für die Geldmärkte. In normalen Zeiten bewegt sich der Tagesgeldsatz, zu dem Banken sich Geld bei anderen Instituten leihen können, bei oder leicht über dem Hauptrefinanzierungssatz. "Nur wenn die EZB das Bankensystem mit überschüssiger Liquidität flutet, sinkt der Tagesgeldsatz auf den Einlagensatz", erläutert Schmieding.
Die Zeiten überschüssiger Liquidität gehen seiner Meinung nach jedoch zu Ende. Mit der Beendigung ihrer Nettokäufe könne die EZB ihre Bilanz stabilisieren. Durch die Beendigung der großzügigen Bedingungen für die gezielten langfristigen Liquiditätsoperationen (TLTROs) im Juni könne die EZB dem Markt sogar Liquidität entziehen und ihre Bilanz zu einem Zeitpunkt reduzieren, an dem sich die Kreditnachfrage angesichts des soliden Wirtschaftswachstums wahrscheinlich verbessern werde, kalkuliert der Ökonom
"Infolgedessen könnten die Geldmarktsätze vom unteren Ende des EZB-Zinskorridors in Richtung des Hauptrefinanzierungssatzes ansteigen, wenn immer mehr Banken nicht mehr aus eigener Kraft über überschüssige Liquidität verfügen und für ihren Bedarf häufiger auf den Geldmarkt zurückgreifen müssen", schreibt Schmieding in seinem Kommentar.
Sobald sich die Liquiditätsbedingungen wieder normalisiert haben, was laut Schmieding eine ganze Weile dauern kann, könnten sich die Geldmarktsätze sogar etwas oberhalb des Refinanzierungssatzes einpendeln, wie es in einem Straffungszyklus üblich ist. "Im Laufe der Zeit wird die Rückkehr der Tagesgeldsätze zu ihrer normalen Position am oder knapp über dem Refinanzierungssatz den Anstieg der Leitzinsen um etwa 50 Basispunkte verstärken", prognostiziert er.
Theoretisch könnte die EZB ihre Leitzinsen und damit den Korridor für die Geldmarktsätze anheben und gleichzeitig eine Überschussliquidität beibehalten, die den Geldmarkt während des gesamten Straffungszyklus in der Nähe des Einlagensatzes halten würde. "Dies wäre jedoch nur begrenzt sinnvoll", meint Schmieding.
Bei einer Rückkehr zu einem normaleren geldpolitischen Kurs wäre die Eindämmung der ungewöhnlichen Liquiditätsflut nach seiner Auffassung ein logischer erster Schritt, bevor das konventionellere Instrument der Leitzinsänderung eingesetzt werde. Das habe EZB-Präsidentin Christine Lagarde in ihrer Pressekonferenz in der vergangenen Woche mehrfach betont.
"Wenn die EZB zuerst die Überschussreserven abbaut und die Märkte die kurzfristigen Zinssätze erhöhen lässt, könnte dies ein erster Schritt auf dem Weg zu einer weniger akkommodierenden Geldpolitik sein, der auf weniger politischen Widerstand stößt als eine sichtbarere frühzeitige Zinserhöhung", argumentiert der Berenberg-Chefvolkswirt. Er hält eine erste Leitzinsanhebung im März 2023 für das wahrscheinlichste Szenario.
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