DJ ING: Lagarde will den Geist zurück in die Flasche zwingen
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat bei ihrer Anhörung vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments am Montag nach Aussage von ING-Europa-Chefvolkswirt Carsten Brzeski versucht, den Geist in die Flasche zurück zu zwingen. "Sie betonte, dass jegliche Anpassung der Politik 'sehr schrittweise' erfolgen werde und dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass die Inflation mittelfristig dauerhaft und deutlich über dem EZB-Zielwert liegen werde, was eine messbare Straffung erfordern würde", schreibt Brzeski in einem Kommentar.
Nach der EZB-Ratssitzung in der vergangenen Woche hatte der Rat erklärt, dass die Inflationsrisiken aufwärts gerichtet seien. Lagarde hatte zudem ihre Einschätzung nicht wiederholt, dass eine Zinserhöhung in diesem Jahr "sehr unwahrscheinlich" sei. Das hatte Anleiherenditen und -spreads kräftig steigen lassen. Manche Volkswirte erwarten für dieses Jahr zwei Zinserhöhungen.
In ihrer Anhörung betonte die EZB-Präsidentin zudem explizit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die notwendigen Werkzeuge habe, um eine gleichmäßige Wirkung ihrer Geldpolitik über das gesamte Währungsgebiet zu erreichen und diese auch nutzen werde.
"Auch wenn diese Äußerungen einige Fragen offen lassen, zum Beispiel, wie die Beendigung der Ankäufe mit weiterhin engen Spreads kombiniert werden kann, ist klar, dass Lagarde die Aufgabe hatte, den hawkishen Geist wieder in die Flasche zu zwingen - Normalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Straffung", schrieb Brzeski.
Die Normalisierung der EZB-Geldpolitik wird aus Sicht des Ökonomen in drei Abschnitten ablaufen.
1. Tapering
Das Pandemiekaufprogramm PEPP läuft Ende März aus. Wie stark eine vorübergehende Unterstützung durch höhere APP-Anleihekäufe sein wird, wird von den Inflationsprognosen für 2022 und 2023 abhängen. Laut Dezember-Beschluss sollen die Nettokäufe im zweiten Quartal von 20 auf 40 Milliarden Euro steigen, ehe sie im dritten Quartal auf 30 Milliarden verringert werden und ab Oktober auf 20 Milliarden.
Es gibt Brzeski zufolge mehrere Optionen für ein schnelleres Ende des QE: Beibehaltung des APP auf dem derzeitigen Stand von 20 Milliarden Euro, keine vorübergehende Erhöhung, Inkaufnahme eines potenziellen Kliff-Effekts und Beendigung des APP bis September 2022. "Eine sanftere Option könnte darin bestehen, das APP im zweiten Quartal auf 40 Milliarden Euro ansteigen zu lassen, es aber im September 2022 auslaufen zu lassen."
2. Ende der Negativzinsen
Sobald die Nettokäufe beendet sind, wird das nächste Kriseninstrument diskutiert und nach Brzeskis Einschätzung wieder im Werkzeugkasten verpackt. Die Rückführung des Einlagensatzes auf null könnte den Bankensektor entlasten und ein angemessenes Signal dafür sein, dass die Zeit der unkonventionellen Maßnahmen vorbei ist. Hier gelten dieselben Inflationserwägungen wie bei der Tapering-Diskussion.
3. Zinsanhebungen über null hinaus
Das Timing der Zinserhöhungen nach der Anhebung des Einlagensatzes auf null ist laut Brzeski eine völlig andere Frage und wird in hohem Maße von der längerfristigen Inflationseinschätzung der EZB abhängen, insbesondere davon, ob strukturelle Faktoren wie der Kampf gegen den Klimawandel, demografische Faktoren und die Deglobalisierung die Inflation anheizen werden oder nicht.
Sollte dies der Fall sein, hat die EZB seiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten: "Entweder sie akzeptiert eine etwas höhere Inflation, da Zinserhöhungen nur begrenzte Auswirkungen auf die von globalen Faktoren getriebene Inflation haben würden - ebenso wie Zinssenkungen auf die von globalen Faktoren getriebene Deflation - oder sie beginnt mit einer Reihe von Zinserhöhungen. Dabei bestünde Brzeski zufolge allerdings die Gefahr, dass der Aufschwung abgewürgt wird und Anreize für die für den grünen Wandel erforderlichen Investitionen schwänden.
Eine Diskussion steht der EZB nach Aussage des ING-Ökonomen aber auch noch über die Spreads bevor: Will sie die Spreads aktiv niedrig halten, um für eine reibungslose Übertragung ihrer Geldpolitik zu sorgen? Oder akzeptiert sie höhere Spreads und ihre potenziellen Auswirkungen für die Schuldentragfähigkeit? Brzeski ist der Ansicht, dass die Spreads noch eine Weile steigen können, bevor es an dieser Front gefährlich wird.
Brzeski erwartet, dass EZB-Offizielle in den nächsten Wochen versuchen werden, die Debatte in die eine oder andere Richtung zu lenken. "In jedem Fall sind wir der Meinung, dass die Marktspekulationen über ein Tapering und eine Zinserhöhung der EZB derzeit ebenso übertrieben sind, wie sie noch vor einer Woche unterschätzt wurden."
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February 08, 2022 04:33 ET (09:33 GMT)
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