MOSKAU/KIEW (dpa-AFX) - Die Lage in Europa ist auch nach Wochen aufwendiger Krisendiplomatie im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine kaum sicherer geworden. Zwar hat Russlands Präsident Wladimir Putin mit einem beispiellosen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine internationale Gespräche zur europäischen Sicherheit erzwungen. Einigkeit besteht da inzwischen auf beiden Seiten, dass es um den Frieden in Europa geht. Moskau lobt auch erste Signale aus den USA und von den Nato-Staaten, über Russlands Interessen zu sprechen. Aber die Kriegsgefahr gilt weiterhin nicht als gebannt.
Was Russland erreichen will
Schon seit Langem versucht Putin, sich im Westen Gehör zu verschaffen mit seinen "Sorgen um die Sicherheit Russlands". Aus Sicht vieler Experten ist ihm das nun erstmals gelungen, indem er die Drohkulisse mit Forderungen nach schriftlichen Sicherheitsgarantien unterlegt. Mit den Kernpunkten seines Katalogs ist er bei der Nato und den USA abgeblitzt. Trotzdem reden die beiden Seiten weiter miteinander.
Der Kremlchef hat immer wieder vor der Nato-Osterweiterung und besonders vor den Gefahren einer US-Raketenabwehr in Europa gewarnt, die russische Militärs als eine "existenzielle Bedrohung" sehen. Und schon lange beklagt der 69-Jährige, der seit mehr als 20 Jahren an der Macht ist, dass die Nato trotz aller Warnungen immer weiter vorrückt in Richtung Russland. Moskau will das nicht mehr widerstandslos hinnehmen und droht mit militärischen Schritten, die bisher nicht näher benannt sind.
Putin machte am Dienstag deutlich, dass er die Nato, die Russland als Gegner einstufe, nicht als friedliches Verteidigungsbündnis sehe. Bei einem Treffen mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron warnte er offen vor einer Konfrontation Russlands mit der Nato, sollte die Ukraine in dem Bündnis Mitglied werden. "Es wird keine Sieger geben", sagte Putin. Konkret behauptete er, die Ukraine könne als Nato-Mitglied versuchen, sich die von Russland 2014 einverleibte Schwarzmeer-Halbinsel Krim mit Gewalt zurückzuholen.
Was die Gespräche mit Russland und dem Westen bisher gebracht haben
Auch Macron meinte, dass es bei der aktuellen Krise um mehr gehe als um die Lage im Ukraine-Konflikt. Es gehe um Europas Sicherheit. Darüber reden nun erstmals Russland, die Nato, die USA und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Es gebe da zwar auch einige positive Signale, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow nach Macrons Besuch. Zufrieden ist Russland mit dem Stand bisher allerdings nicht.
Auch aus westlicher Sicht ist vieles weiter offen - nicht zuletzt die Frage, wie Russland auf die schriftlichen Gesprächsangebote der Nato und der USA reagieren wird. Das Außenministerium in Moskau bekräftigte am Mittwoch, die Analyse der Schriftstücke laufe noch.
Außenminister Sergej Lawrow hatte zudem seine OSZE-Kollegen schriftlich aufgefordert, auf die Grundlagen des Mit- und Nebeneinanders in Europa einzugehen. Demnach könne die Sicherheit eines Landes nicht auf Kosten eines anderen umgesetzt werden. So verlangt Russland nach allen Gesprächen weiter, dass die Ukraine auf das ihr von der Nato zugesprochene Recht auf freie Bündniswahl verzichtet. Russland hat bisher allerdings auch nicht erklärt, wie die Ukraine dann selbst ihre Sicherheitsbedürfnisse schützen könnte.
Wie die Schlüsselrolle der USA bei der Sicherheit in Europa aussieht
Russland sieht selbst eine Schlüsselrolle der USA in den Fragen der Sicherheit in Europa. Unter Präsident Joe Biden setzen die USA im Umgang mit Russland auf eine Mischung aus Diplomatie und Drohungen. Die Schuldfrage in der Krise ist dabei geklärt in Washington: Über alle politischen Lager hinweg gilt Putin als unberechenbarer Aggressor, der die territoriale Integrität der Ukraine bedroht. Konkret droht Biden für den Fall eines russischen Angriffs auf die Ukraine mit einem Aus für die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 sowie mit weiteren Finanz- und Wirtschaftssanktionen.
"Dieses Mal werden wir ganz oben auf der Eskalationsleiter beginnen und dort bleiben", sagte ein US-Regierungsmitarbeiter. Für den Ernstfall plant die US-Regierung nach ihren Angaben zusätzlich Exportkontrollmaßnahmen, die sich gegen wichtige russische Wirtschaftsbereiche wie Verteidigung oder Luftfahrt richten sollen.
Biden, der in dieser Woche auch Kanzler Olaf Scholz empfangen hatte, betont immer wieder, niemand wisse, was genau Putin plane. Das Weiße Haus änderte daher nun die eigene Wortwahl. Sprecherin Jen Psaki sagte, es werde nicht mehr von einem "unmittelbar bevorstehenden" russischen Einmarsch in die Ukraine gesprochen, weil das suggeriere, die USA hätten Kenntnis von einer Entscheidung Putins.
Zur Sicherheit verlegten die USA aber auf Bidens Anordnung wegen der Krise 1700 Soldaten aus den Vereinigten Staaten nach Polen und 300 weitere nach Deutschland. Aus Deutschland wiederum sollen 1000 US-Soldaten nach Rumänien verlegt werden. Insgesamt sind in Europa nach Pentagon-Angaben rund 80 000 US-Soldaten stationiert.
Wie sich die Lage nun weiter entwickelt
Die Spannungen bleiben weiter hoch. An diesem Donnerstag beginnt in Belarus an den Grenzen zu Polen und zur Ukraine ein großes Militärmanöver. Zwar beteuern die Militärführungen in Moskau und Minsk, die bis 20. Februar angesetzte Übung sei für niemanden eine Gefahr. Trotzdem sehen die Nato und der Westen darin eine Bedrohung.
Geplant sind zudem weitere Gespräche im Ukraine-Konflikt. In Berlin kommen an diesem Donnerstag russische und ukrainische Diplomaten unter deutsch-französischer Vermittlung - im so bezeichneten Normandie-Format - zusammen, um über eine Lösung zu verhandeln. In der Ostukraine stehen sich Kiews Regierungstruppen und die von Moskau unterstützten Separatisten in den abtrünnigen Teilen der Regionen Luhansk und Donezk gegenüber. Sie werden von russischem Gebiet aus von rund 125 000 Soldaten flankiert, die im Fall eines Angriffs der ukrainischen Seite dort einmarschieren könnten.
Über diese brandgefährliche Situation, die nach Kremlangaben durch einen "Funken" explodieren könnte, will auch Kanzler Olaf Scholz am kommenden Dienstag mit Putin in Moskau sprechen - und zuvor mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Dabei dürfte Scholz auch zur Einhaltung des 2015 in Minsk (Belarus) ausgehandelten Friedensplans für die Ostukraine dringen. Das Treffen mit Putin, der schon mit Macron diese Woche fast sechs Stunden verhandelte, dürfte die bisher größte Bewährungsprobe für Scholz werden.
Wie die Ukraine auf die Spannungen reagiert
Selenskyj und sein Außenminister Dmytro Kuleba loben die internationale Solidarität für die Ukraine, die Besuche, die militärische Hilfe - auch wenn Deutschland in dem Land weiter in der Kritik steht, keine Waffen zu liefern. Vor allem aber prallen bisher alle Appelle, die Kernforderungen aus dem Minsker Abkommen umzusetzen, an der Führung des Landes ab. Die etwa vorgesehene Autonomie für die Separatistengebiete oder auch nur ein Dialog mit den Führungen in Donezk und Luhansk gelten aus ukrainischer Sicht innenpolitisch als nicht durchsetzbar. Selenskyj meinte dazu unlängst: "Ich bin mit allen Punkten von Minsk unzufrieden."/ast/DP/stw