
DJ Commerzbank: EZB sollte Prognose-Ungenauigkeit berücksichtigen
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte nach Aussage von Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert stärker berücksichtigen, dass sie ihre vorausschauende Geldpolitik auf Basis ungenauer Inflationsprognosen betreibt. Schubert kommt in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Inflationsprognosen der sogenannten Professional Forecasters üblicherweise deutlich neben der Realität liegen. Eine Verfehlung des mittelfristigen Inflationsziels von 2 Prozent um zwei Dezimalstellen sollte daher nicht die Grundlage geldpolitischer Entscheidungen bilden. "Es besteht die Gefahr, dass die Effizienz der Geldpolitik längerfristig aufgrund eines Vertrauensverlusts leidet", schreibt der Ökonom.
Die EZB hatte ihre Geldpolitik im Dezember trotz hoher kurzfristiger Inflationsraten unverändert expansiv gelassen, nachdem die Volkswirte der Eurosystem-Zentralbanken für 2023 und 2024 Inflationsraten von 1,8 Prozent prognostiziert hatten. EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte nach der EZB-Ratssitzung, dass 1,8 Prozent nicht 2 Prozent seien.
Im Jahr 2020 hatte sich die EZB eine neue geldpolitische Strategie gegeben, die vor allem eine Reaktion auf das jahrelange Verfehlen des Inflationsziels nach unten war. Ein Kernstück der neuen Strategie ist es, in der Nähe der Zinsuntergrenze besonders energisch bzw. hartnäckig zu agieren - die Geldpolitik im Zweifelsfall also eher länger locker zu halten.
Aktuell stellt die EZB deshalb unveränderte oder noch niedrigere Zinsen in Aussicht, bis die Inflation deutlich vor 2024 das Ziel von 2 Prozent zu erreichen und dort für den Rest des Prognosezeitraums zu bleiben verspricht. Zudem muss sich ein solcher Trend fortlaufend in den Kerninflationsraten ablesen lassen.
Im Februar bestätigte sie diese Forward Guidance, deutete aber gleichwohl ihre Bereitschaft an, die Geldpolitik zu "normalisieren". Die soll aber nur in dem Fall geschehen, dass die Inflationsprognosen für 2023 und 2024 tatsächlich bei 2 Prozent liegen. Schubert hält das angesichts der Prognose-Ungenauigkeiten für einen Fehler.
Es sei sehr ernüchternd, wie groß die Fehler selbst des Konsens bei der Inflationsprognose auf Sicht von einem und zwei Jahren ausfielen. Absolut betrachtet, also ohne Beachtung des Vorzeichens des Fehlers, liege der Konsens bei der einjährigen Inflationsprognose um 3/4 Prozentpunkte daneben, bei der Prognose auf Sicht von zwei Jahren sei der Fehler erwartungsgemäß noch etwas größer. Der Ökonom bezieht sich dabei nicht auf die EZB-Stabsprognosen, sondern auf den Survey of Professional Forecasters.
Ein Ausweg für die EZB könnte Schubert zufolge sein, die unvermeidliche Prognose-Unsicherheit explizit in ihre Strategie einzubinden und ein Toleranzband für die Inflation einzuführen. Allerdings glaubt er nicht, dass die EZB so etwas tatsächlich einführen würde. Stattdessen könnte sie aber darauf verzichten, ihre Strategie strikt anzuwenden und stattdessen pragmatisch verfahren - insbesondere, wenn die Unsicherheit über die künftige Entwicklung groß sei.
"Wir prognostizieren, dass die EZB auf ihrer kommenden Sitzung im März einen Kurswechsel einleitet, indem sie zunächst die Nettoanleihekäufe früher beendet als bisher avisiert und dann ab Spätsommer den Einlagezins erhöht", schreibt Schubert. Es wäre aus seiner Sicht aber besser, wenn diese Entscheidung nicht nur auf einem geänderten Basisszenario, sondern auf der generellen Auffassung beruhen würde, dass eine nicht zu vermeidende Prognose-Unsicherheit bei den Entscheidungen der Notenbank mit berücksichtigt werden müsse.
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February 15, 2022 07:19 ET (12:19 GMT)
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