DJ IWH: Preisschock gefährdet Erholung der deutschen Wirtschaft
Von Andreas Kißler
HALLE/BERLIN (Dow Jones)--Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat unter dem Eindruck der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs seine Prognosen für die Zunahme des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in diesem und im kommenden Jahr gesenkt. Das Institut erwartet nun für 2022 eine Steigerung um 3,1 Prozent anstatt im Dezember prognostizierter 3,5 Prozent und für 2023 um 1,5 Prozent statt 1,8 Prozent. Für den Verbraucherpreisindex veranschlagte das IWH dieses Jahr eine Steigerung um 4,8 Prozent und nächstes Jahr um 3,2 Prozent.
"Der Ukraine-Krieg trifft die deutsche Wirtschaft vor allem über einen Energiepreisschock, aber auch über die Unterbrechung von Handelsströmen und über eine allgemeine Verunsicherung", erklärte das Institut. Zugleich erhalte die Konjunktur aber von der Aufhebung vieler Pandemie-Restriktionen einen kräftigen Schub.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine habe die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Europa drastisch verschlechtert. Die Preise für Rohstoffe und Energie und hier besonders für Erdgas seien stark gestiegen, die Sanktionen brächten den über Energielieferungen hinausgehenden Russlandhandel nahezu zum Erliegen, und europäische Aktienkurse hätten deutlich an Wert verloren. Im Fall eines Stopps der russischen Gaslieferungen wäre für Deutschland mit einer Bewirtschaftung des Rohstoffs und einer scharfen Rezession vor allem im verarbeitenden Gewerbe zu rechnen.
Wenn, wie in der Prognose aber unterstellt, Gas weiter geliefert werde, sei der konjunkturelle Haupteffekt der Krise der Energiepreisanstieg, der zu Realeinkommenseinbußen der privaten Haushalte und zum Verlust an Wettbewerbsfähigkeit von Unter-nehmen führe, insbesondere wegen des in Europa besonders teuren Erdgases. Auch würden Wertschöpfungsketten, die durch die Ukraine oder Russland führten, zerrissen. "Der in den meisten Weltregionen schon vor Kriegsbeginn hohe Inflationsdruck verstärkt sich weiter", konstatierte das Institut.
Erholung gewinnt mit Ende von Restriktionen an Schwung
Die deutsche Konjunktur treffe der Krieg in einer Erholungsphase, nachdem die Winterwelle der Pandemie den privaten Konsum und die wirtschaftliche Aktivität im Schlussquartal 2021 noch habe schrumpfen lassen. "Auch, wenn die Pandemie noch keineswegs vorbei ist, dürfte die Erholung mit der Aufhebung vieler zur Pandemiebekämpfung erlassener Restriktionen im März an Schwung gewinnen", erwartete IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller. Die privaten Haushalte würden einen Teil ihrer während der Pandemie angesammelten Ersparnis in den kommenden Quartalen wohl zusätzlich ausgeben, was insbesondere den Dienstleistern zugutekomme.
Die Produktion dürfte im zweiten Quartal deshalb recht kräftig expandieren. Allerdings müssten die Konsumenten das Geld auch dazu verwenden, die höheren Lebenshaltungskosten zu bestreiten, denn die ohnehin schon starke Preisdynamik in Deutschland werde durch den russischen Krieg noch einmal erhöht. "Die Teuerung, Ausfälle von Exporten nach Osteuropa und eine allgemeine Verunsicherung sind Kanäle, über die der Krieg gegen die Ukraine die deutsche Konjunktur dämpft, was sich in der zweiten Jahreshälfte in deutlich niedrigeren Zuwachsraten der Produktion niederschlägt", sagte Holtemöller.
Der Aufbau der Erwerbstätigkeit verlangsamt sich laut der Prognose im Jahresverlauf 2022. Gegen Ende des Jahres komme er aufgrund der starken Mindestlohnerhöhung nahezu zum Stehen. Die Zahl der Arbeitslosen soll nach den Berechnungen dieses Jahr auf 2,299 Millionen und nächstes auf 2,249 Millionen sinken, die Arbeitslosenquote auf 5,0 und 4,9 Prozent.
Die hohen Energie- und Rohstoffpreise ließen den deutschen Leistungsbilanzsaldo deutlich von 6,9 Prozent in Relation zum BIP im Jahr 2021 auf 5,4 Prozent im Jahr 2022 sinken. Das Haushaltsdefizit dürfte im laufenden Jahr deutlich zurückgehen, denn mit der anziehenden Konjunktur dürften vor allem die Einnahmen der Sozialversicherungen beschleunigt expandieren, während die öffentlichen Ausgaben im Zusammenhang mit rückläufigen Kosten der Corona-Pandemie kaum steigen würden.
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March 17, 2022 08:00 ET (12:00 GMT)
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