DJ Ex-Chefvolkswirt Issing kritisiert EZB scharf - Zeitung
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing hat der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgeworfen, zu langsam auf die verbesserten Wachstums- und Inflationsaussichten reagiert zu haben und nun vor dem Dilemma einer Stagflation zu stehen. "Die EZB hat massiv zu dieser Falle beigetragen, in der sie nun gefangen ist, weil wir auf das Risiko einer Stagflation zusteuern", sagte Issing der Financial Times.
Die EZB habe sich auf ihr Prognosemodell verlassen, aber dieses Modell könne nicht die richtigen Signale geben, weil es auf der Vergangenheit und zyklischen Erfahrungen beruhe - "und die Pandemie hat keinen zyklischen Abschwung verursacht", so Issing. Es brauche einen viel umfassenderen Ansatz, um die Inflation in einer Zeit des Strukturwandels zu erklären. "Wenn man eine Fehldiagnose stellt, hat man natürlich eine fehlgeleitete Politik", befand Issing.
Die EZB steuert gemäß ihrer aktuellen Kommunikation auf eine erste Zinserhöhung im Dezember zu. Manche Beobachter halten es aber für denkbar, dass ein solcher Schritt auch schon im September erfolgt. Dies könnte sie bereits an diesem Donnerstag signalisieren. Issing zufolge wäre die EZB damit "spät dran". Noch stärker "behind the curve" ist seiner Einschätzung nach jedoch die US-Notenbank.
Issing stimmte zu, dass jetzt "nicht die Zeit ist, die Zinssätze auf ein hohes Niveau anzuheben". Er sagte jedoch, dass die EZB ihre Stimulierungsmaßnahmen bereits zu lange beibehalten habe, was angesichts der Erholung von Wachstum und Inflation und der auf ein Rekordtief gefallenen Arbeitslosigkeit "sehr schwer zu verteidigen" sei. "Die Inflation war ein schlafender Drache, und der ist nun erwacht", sagte Issing.
Die EZB habe in der Fantasie gelebt, diese Politik ohne negative Folgen fortzusetzen zu können. "Sie wäre in einer besseren oder zumindest weniger schlechten Situation, wenn sie früher mit der Normalisierung der Politik begonnen hätte - der Krieg sollte nicht von dieser Tatsache ablenken."
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April 12, 2022 03:36 ET (07:36 GMT)
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