KIEW/WOSTOTSCHNY (dpa-AFX) - Kurz vor der erwarteten Großoffensive in der Ostukraine hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin siegessicher gezeigt und den Westen mit Vorwürfen überzogen. Die Ziele der "Spezialoperation" würden erreicht, sagte Putin am Dienstag in Wostotschny im fernen Osten des Landes. "Daran gibt es keinen Zweifel." Den USA und Europa hielt der Kremlchef vor, sie führten mit ihren Sanktionen einen "Wirtschaftskrieg" gegen Russland, der aber gescheitert sei. Putin bezeichnete Vorwürfe, russische Soldaten hätten in Butscha bei Kiew Kriegsverbrechen verübt, als "Provokation" und "Fake".
Im Osten der Ukraine zeichnet sich nach Erkenntnissen westlicher und ukrainischer Militärs eine Großoffensive mit Zehntausenden Soldaten und dem massiven Einsatz von Panzern, Artillerie und Luftwaffe ab - nur über den Zeitpunkt gibt es verschiedene Angaben. In der fast zerstörten Stadt Mariupol berichtete das ultranationalistische Asow-Regiment von einem Giftgasangriff der Russen. Eine Bestätigung gab es nicht, die USA und Großbritannien reagierten aber besorgt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte am Dienstag Polen, eine geplante Reise in die Ukraine ist aber geplatzt.
Putin hält Russlands Wirtschaft trotz Sanktionen für stabil
Putin traf sich am Dienstag mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko auf dem Weltraumbahnhof Wostotschny in Russlands Fernem Osten. Die Wirtschaftssanktionen können seinem Land kaum etwas anhaben, erklärte er. "Dieser Blitzkrieg, auf den unsere Missgönner gesetzt haben, ist natürlich fehlgeschlagen, das ist offensichtlich", sagte der Staatschef. Russlands Wirtschaft und Finanzsystem stünden "fest auf beiden Beinen". Es gebe zwar Probleme in der Logistik und bei Abrechnungen. Aber: "Die Wirtschaft arbeitet ziemlich stabil." Man sei auf weiter steigende Risiken gefasst, sie machten Russland am Ende stärker. Kanzler Olaf Scholz hatte dagegen jüngst erklärt, die Sanktionen seien "hochwirksam".
Putin hält die angeblichen Kriegsverbrechen in Butscha für eine Erfindung. Die USA hätten damals mutmaßliche Chemiewaffen im Irak als Vorwand genutzt für einen Einmarsch in das Land. "Genauso einen Fake gibt es in Butscha." Putin sagte weiter: "Viele sagen, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, gegen Russland bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen. Und so ist es auch", sagte Putin. Die Ukraine beschuldigt die russischen Truppen, in Butscha, einem Vorort der Hauptstadt Kiew, ein Massaker unter Zivilisten angerichtet und Hunderte Menschen, teils gefesselt, erschossen zu haben.
Dauerregen könnte Großangriff im Osten verzögern
Russland habe seine Truppen in der Ostukraine zuletzt von 30 000 auf 40 000 Mann aufgestockt, hieß es vom US-Verteidigungsministerium. Die
Truppen wollen nach Angaben aus Kiew bis an die Verwaltungsgrenzen des Gebiets Donezk vordringen. Moskau werde versuchen, Mariupol sowie die Kleinstadt Popasna im Gebiet Luhansk einzunehmen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Das Kommando der ukrainischen Armee im Osten erklärte, man habe im Gebiet Donezk an sechs Stellen Angriffe abgewehrt. Die Ukraine hat dort besonders starke Truppen, die seit 2014 die Front gegen die von Moskau gelenkten und ausgerüsteten Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk halten.
Den westlichen Einschätzungen nach könnte ein russischer Angriff von Norden aus Richtung Charkiw und Isjum erfolgen. Satellitenbilder zeigten vor Isjum einen kilometerlangen Konvoi mit Fahrzeugen zur Unterstützung von Infanterie, Kampfhubschrauber und Kommandostellen, sagte ein Pentagon-Vertreter. Ein zweiter Zangenangriff wird von Süden erwartet.
Die britischen Geheimdienste erwarten in den kommenden zwei bis drei Wochen verstärkte Gefechte im Osten der Ukraine. Serhij Hajdaj, Leiter der regionalen Militärverwaltung in Luhansk, sagte, Dauerregen könnte den russischen Vormarsch verzögern. Es werde wohl mehrere Tage regnen und dann müsste die russische Armee die Straßen nutzen und sei somit ein leichteres Ziel für die Ukrainer. "Ich hoffe, der Regen verlangsamt die Offensive."
Der deutsche Militärexperte Carlo Masala erwartet nach Ostern einen russischen Großangriff im Osten der Ukraine. Die Verstärkung und Umgruppierung der russischen Truppen werde bald abgeschlossen sein, sagte der Münchner Politikprofessor in einem "stern"-Podcast.
Einsatz von Giftgas in Mariupol?
Prorussische Separatisten wiesen den Vorwurf ukrainischer Kämpfer zurück, sie hätten in Mariupol Giftgas eingesetzt. Eduard Bassurin, ein Sprecher der Donezker Separatisten, sagte der russischen Agentur Interfax: "Die Streitkräfte der Donezker Volksrepublik haben in Mariupol keine chemischen Waffen eingesetzt." In der Nacht hatte das ukrainische Asow-Regiment von einem solchen Angriff berichtet. Eine offizielle Bestätigung gab es auch von ukrainischer Seite nicht.
"Nach vorläufigen Angaben gibt es die Annahme, dass es wohl Phosphorkampfmittel waren", sagte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar im ukrainischen Fernsehen. Endgültige Schlussfolgerungen könne es erst später geben. Das Risiko eines russischen Chemiewaffeneinsatzes sei jedoch groß, betonte sie. Bassurin hatte nämlich zuvor einen möglicherweise bevorstehenden Angriff mit Chemiewaffen angedeutet.
Die westlichen Staaten haben Moskau vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt, falls es in dem Krieg Chemiewaffen oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte. Das Pentagon erklärte, dass die USA keinen Einsatz chemischer Waffen in Mariupol bestätigen könnten. Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Außenministerin Liz Truss auf Twitter, jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.
Selenskyj beklagt das Fehlen schwerer Waffen
Der Ukraine fehlen nach Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj die schweren Waffen, um das fast verlorene Mariupol zu befreien. "Wenn wir Flugzeuge und genug schwere gepanzerte Fahrzeuge und die nötige Artillerie hätten, könnten wir es schaffen", sagte er in seiner nächtlichen Videoansprache. Er sei zwar sicher, dass die Ukraine irgendwann die Waffen bekommen werde, die sie brauche. "Aber nicht nur Zeit geht verloren, sondern auch das Leben von Ukrainern." Auch er sprach von möglichen Chemiewaffenangriffen Russlands. Dies sollte für ausländische Staaten Anlass sein, noch härter auf die russische Aggression zu reagieren, sagte Selenskyj.
Steinmeier in Kiew nicht willkommen
Eine geplante Reise von Bundespräsident Steinmeier nach Kiew ist geplatzt, weil er dort offensichtlich nicht willkommen ist. Der polnische Präsident Andrzej Duda habe in den vergangenen Tagen angeregt, dass sie beide zusammen mit den Staatschefs der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland in die ukrainische Hauptstadt reisen, sagte Steinmeier in Warschau. "Ich war dazu bereit. Aber offenbar - und ich muss zur Kenntnis nehmen - war das in Kiew nicht gewünscht." Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hatte zuletzt gesagt, es wäre besser, wenn Kanzler Scholz nach Kiew komme. Ein Besuch des Bundespräsident hätte symbolischen Charakter. "Es sollten lieber der Bundeskanzler oder andere Mitglieder der Bundesregierung kommen, die konkrete Entscheidungen über weitere massive Unterstützung für die Ukraine treffen."
Unicef: Zwei Drittel der ukrainischen Kinder auf der Flucht
Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef sind zwei Drittel der ukrainischen Kinder auf der Flucht vor dem Krieg. Zudem seien mindestens 142 Kinder getötet worden. In Wirklichkeit dürften die Zahlen allerdings deutlich höher sein, teilte die Organisation mit. Die Justiz in der Ukraine selbst sprach am Dienstag von mindestens 186 getöteten und 344 verletzten Kindern und Jugendlichen. Unicef verwies zudem auf die vielen Minderjährigen, die entweder mit ihren Familien geflüchtet seien oder weiter im Kriegsgebiet ausharrten. "Der Krieg ist weiter ein Alptraum für die Kinder der Ukraine", sagte Unicef-Nothilfekoordinator Manuel Fontaine./hot/fko/DP/men