
DJ DIW-Chef Fratzscher: EZB sollte ihr Inflationsziel aufgeben
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte nach Aussage von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), ihr Inflationsziel von 2 Prozent aufgeben. In einem Beitrag für das Handelsblatt führt Fratzscher, der früher selbst für die EZB gearbeitet hat, vier Gründe auf und rät der EZB zudem, Finanzstabilität in der Strategie "viel expliziter" als Ziel zu etablieren. Die EZB hat ihre geldpolitische Strategie erst vor kurzem überprüft und modifiziert und dabei das 2-Prozent-Inflationsziel bestätigt.
Folgende Gründe nennt der DIW-Chef:
1. Der Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaschutz und Digitalisierung wird zu einer dauerhaft höheren Inflation führen, gegen die Zentralbanken wenig tun können oder sollen
2. Die Neugestaltung globaler Lieferketten erhöht den Preisdruck und den Einfluss externer Faktoren auf die Inflation. Zentralbanken können die Inflation deshalb immer schwerer kontrollieren
3. Zentralbanken müssen stärker auf die Bewahrung der Finanzstabilität achten. Das schränkt ihren geldpolitischen Spielraum ein
4. Hohe und zunehmende globale Ungleichgewichte, vor allem in Bezug auf die Staatsverschuldung, führen zu stärkerer fiskalischer Dominanz der nationalen Regierungen, was die Zentralbank im Interesse der Preisstabilität berücksichtigen muss
"Je länger und stärker Zentralbanken ihr Inflationsziel verfehlen, desto mehr verlieren sie an Glaubwürdigkeit - und damit die Fähigkeit, Erwartungen zu verankern und wirtschaftliche Akteure in die gewünschte Richtung zu steuern", schreibt Fratzscher in seinem Kommentar. Es sei extrem kostspielig und schwierig, diese Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, wenn sie einmal verloren sei.
Der DIW-Präsident rät der EZB, ihr quantitatives Inflationsziel aufzugeben und Finanzstabilität "viel expliziter" in der Strategie zu verankern. Dies würde mehr Transparenz bedeuten, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Erwartungen leisten und letztlich die Glaubwürdigkeit von Zentralbanken schützen. "Es ist an der Zeit, dass sich Zentralbanken eingestehen, dass sie in dieser neuen Welt, die zunehmend von Transformation, Finanzinstabilität und globalen Ungleichgewichten bestimmt wird, einen Teil ihres Einflusses auf die Preisstabilität verloren haben."
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June 02, 2023 08:43 ET (12:43 GMT)
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