GENF (dpa-AFX) - Eine Woche nach Kriegsbeginn haben europäische Außenminister mit ihrem iranischen Kollegen Abbas Araghtschi in Genf erstmals Chancen für eine diplomatische Lösung ausgelotet. Parallel zu schweren gegenseitigen Angriffen von Israel und Iran versuchten der deutsche Chefdiplomat Johann Wadephul in der Schweiz zusammen mit Jean-Noël Barrot (Frankreich) und David Lammy (Großbritannien) zu klären, ob Teheran zum Einlenken bei seinem Atomprogramm und zum Verzicht auf Atomwaffen bereit ist.
An den Gesprächen nahm auch die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas teil. Die Europäer kamen zunächst unter sich in der Residenz des deutschen Abrüstungsbotschafters zusammen. Das Treffen mit Araghtschi begann gegen 15.30 Uhr im Hotel InterContinental. Ein Ende war nach rund dreistündigen Verhandlungen am frühen Abend nicht abzusehen.
Irans Außenminister: Wer Israels Angriff rechtfertigt, ist Komplize
Araghtschi rief die internationale Gemeinschaft im UN-Menschenrechtsrat vor dem Treffen mit den Europäern auf, die Angriffe Israels auf sein Land zu verurteilen. "Jede Rechtfertigung dieses ungerechten und verbrecherischen Krieges käme einer Komplizenschaft gleich", sagte er. Der Iraner warf Israel wegen dessen Vorgehens im Gazastreifen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Wadephul: Iran nun am Zug
Wadephul mahnte vor dem Treffen, Iran sei nun am Zug. Araghtschi forderte hingegen ein Ende der israelischen Angriffe als Voraussetzung für Verhandlungen. US-Präsident Donald Trump hatte seine Sprecherin Karoline Leavitt am Vorabend erklären lassen, er wolle vor dem Hintergrund der anstehenden Verhandlungen innerhalb der nächsten zwei Wochen entscheiden, ob die USA als wichtigster Verbündeter Israels in den Krieg eingreifen werden.
Gegenseitige schwere Angriffe gehen weiter
Israel und Iran attackierten sich ungeachtet der Gespräche in Genf gegenseitig weiter. In der israelischen Stadt Haifa wurden laut dem israelischen Rettungsdienst Magen David Adom bei einem Angriff mindestens 23 Menschen verletzt, drei von ihnen schwer. Israels Außenminister Gideon Saar teilte mit, in Haifa sei auch eine Moschee getroffen worden. Dabei seien Geistliche, die sich in dem Gotteshaus aufgehalten hätten, verletzt worden.
Irans Revolutionsgarden, die Elitestreitmacht des Landes, sprachen von israelischen Angriffen auf militärische Ziele, Einrichtungen der Rüstungsindustrie, Kontrollzentren sowie die Luftwaffenstützpunkte Nevatim und Hatzerim. Ob diese Ziele tatsächlich getroffen wurden, lässt sich derzeit unabhängig nicht bestätigen. Iranische Medien meldeten auch einen israelischen Angriff auf die Hafenstadt Buschehr, in der sich das einzige AKW des Landes befindet.
Wadephul mit Forderungskatalog an Teheran
Der deutsche Außenminister hatte vor dem Abflug nach Genf erneut Gesprächsbereitschaft gegenüber Iran signalisiert, aber zugleich einen Forderungskatalog ausbuchstabiert. "Das setzt die ernsthafte Bereitschaft des Iran voraus, auf jede Anreicherung von nuklearem Material zu verzichten, was in Richtung einer atomaren Bewaffnung gehen könnte." Auch über das Raketenprogramm Teherans müsse verhandelt werden. "Wenn diese ernsthafte Bereitschaft besteht, dann wird unsererseits auch die Folge sein, dass wir bereit sind, weitere Gespräche zu führen."
Macron: Rückkehr zu Verhandlungen hat Priorität
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nannte das iranische Atomprogramm eine Bedrohung. Es gebe aber sehr gut geschützte Werke im Iran, und niemand könne derzeit genau sagen, wo sich das auf 60 Prozent angereicherte Uran befinde. Die Rückkehr zu Verhandlungen müsse Priorität haben. Der britische Außenminister Lammy, der kurz vor dem Genfer Treffen in Washington mit US-Außenminister Marco Rubio zusammentraf, sieht das von Trump genannte Zeitfenster als Chance für eine diplomatische Lösung und warnte vor einer weiteren Eskalation des Konflikts.
Katz will umfassende Evakuierung Teherans
Israels Verteidigungsminister Israel Katz wies die Armee an, ihre Angriffe auszuweiten und dabei verstärkt Ziele der Regierung in Teheran ins Visier zu nehmen. Auf diese Weise solle das "Regime" destabilisiert werden, sagte Katz. Staatliche Symbole sollten angegriffen und eine umfassende Evakuierung der Bevölkerung Teherans herbeigeführt werden.
Schweiz und Großbritannien schließen Botschaften in Teheran
Großbritannien und die Schweiz, die seit Jahrzehnten auch die diplomatischen Interessen der USA im Iran vertritt, schlossen ihre Botschaften in Teheran. Die Briten teilten mit, das Botschaftspersonal wegen der Sicherheitslage vorübergehend aus dem Iran abzuziehen. Das Schweizer Außenministerium erklärte, die Entscheidung sei "angesichts der Intensität der militärischen Operationen im Iran und der äußerst instabilen Lage" getroffen worden.
UNHCR bereitet Krisenpläne für Flüchtlinge aus Iran vor
Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bereitet sich auf größere Flüchtlingsgruppen aus dem Iran vor. "Wir erstellen Krisenpläne", sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi der Deutschen Presse-Agentur. "Wir haben sie noch nicht veröffentlicht, weil wir nicht genügend Informationen haben und weil wir die Entwicklung abwarten. Aber wir planen auf jeden Fall." Es gebe bereits unbestätigte Berichte über ankommende Flüchtlinge aus dem Iran in Armenien, Aserbaidschan und Turkmenistan, sagte Grandi.
Seit Kriegsbeginn sind nach offiziellen Angaben in Israel 24 Menschen durch die iranischen Angriffe getötet sowie mehr als 800 verletzt worden. Im Iran kamen laut des in den USA ansässigen Menschenrechtsnetzwerks HRANA bislang mehr als 650 Menschen ums Leben; mehr als 2.000 seien verletzt worden. Die Aktivisten stützen sich auf Informanten und öffentlich zugängliche Quellen. Die Regierung selbst veröffentlicht keine Zahlen zu Verletzten und Todesopfern.
Spielt Teheran auf Zeit?
In Teheran kam es nach dem Freitagsgebet zu einer Kundgebung von Regierungsanhängern. Der Sicherheitsexperte Riad Kahwaji von dem in Dubai ansässigen Institute for Near East and Gulf Military Analysis (Inegma) ging im dpa-Gespräch davon aus, dass der Iran derzeit auf Zeit spielt. Teheran rationiere seine Raketen und versuche, die Moral im eigenen Land mit Propaganda aufrechtzuerhalten./bk/DP/nas