BERLIN (dpa-AFX) - In der Koalitionskrise um neue Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht beharrt die SPD auf ihren Personalvorschlägen. CSU-Chef Markus Söder rechnet aber nicht mehr mit einer Wahl der SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Ins Visier rechter Angriffe gerät zusehends auch die ebenso nominierte Staatsrechtlerin Ann-Katrin Kaufhold aus München. Den Vorstoß der Grünen für eine baldige Sondersitzung des Bundestags zur Richterwahl schmetterten Union und SPD ab. Aus der Union kamen keine neuen Lösungsvorschläge. Somit droht die Koalition, den Sommer über in ihrer verfahrenen Lage steckenzubleiben.
Für eine Sondersitzung sehe man "aktuell keine Dringlichkeit", schreiben die Parlamentarischen Geschäftsführer Steffen Bilger (CDU) und Dirk Wiese (SPD) an die Grünen-Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und Katharina Dröge. Es liegt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vor. Bilger und Wiese betonten in ihrem Schreiben, "dass uns das Ziel einer zeitnahen Neubesetzung der drei Richterstellen eint". Die Mehrheitserfordernisse seien aber herausfordernd.
Söder sagte der "Bild"-Zeitung, er gehe davon aus, dass es am Ende keine Mehrheit für Brosius-Gersdorf gebe. Er verstehe, wenn die SPD "zunächst" an ihrer Kandidatin festhalte. "Und dann am Ende des Sommers wird man zusammenkommen und am Ende eine gute Entscheidung treffen, die auch das Gesicht der SPD wahrt."
Was steckt hinter den Vorgängen?
Immer mehr rückt die Frage nach vorn, was eigentlich hinter den Vorgängen steckt. Der Historiker Volker Weiß sagte: "Die Kampagne gegen die SPD-Kandidatinnen folgt einer bewussten Strategie." Der Autor mehrerer Bücher zur "Neuen Rechten" sagt, "dass die AfD an einer Zerstörung der Regierungskoalition arbeitet". Weiß beruft sich unter anderem auf ein internes AfD-Strategiepapier. "Die SPD soll nach links, die Union nach rechts gezwungen werden", sagte Weiß der Deutschen Presse-Agentur.
Die Kräfte innerhalb der CDU, die der sogenannten Neuen Rechten nahe stünden, seien gewachsen, so der Forscher. "Das wird nicht der letzte Angriff gewesen sein, denn die Kampagne ist Teil eines Kulturkampfs, der - siehe Trump - längst international geführt wird." Den Kritikern von rechts gehe es "um den liberalen Charakter der Demokratie".
Was die Koalition tun kann
Das Amt der Verfassungsrichterin sei "durch die teils schrillen Vorwürfe gegen Frau Brosius-Gersdorf und die totale Polarisierung dadurch" bereits beschädigt, meinte Weiß. Denn: "Nimmt sie das Amt an, dürften ihre Gegner zukünftig jede Gerichtsentscheidung, an der sie beteiligt ist, als ideologisch motiviert desavouieren. Verzichtet sie, würde das diese heftige Kampagne durch einen Erfolg krönen." Machtlos sei die Koalition gegen die AfD-Strategie allerdings nicht. "Dazu müsste die CDU die Contenance bewahren und nicht über die Stöckchen springen, die ihr hingehalten werden."
Die Vorwürfe gegen die SPD-Kandidatinnen
Immer mehr rechte Posts und Wortmeldungen zielen inzwischen auch auf Kandidatin Kaufhold. So nannte sie AfD-Vize Stephan Brandner "Befürworterin staatlicher Enteignungen mit großer Nähe zum linksgrünen Milieu" und "untragbar". Kaufhold stehe für eine gesellschaftliche Transformation zur Bekämpfung des Klimawandels und wolle demokratische Prozesse umgehen, so der AfD-Politiker.
Kaufhold war Mitglied einer Kommission zur Frage einer Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen in Berlin. Das Ergebnis des Gremiums war vor rund zwei Jahren, dass das Grundgesetz dem Land Berlin ermögliche, die Vergesellschaftung von Grund und Boden in einem Gesetz zu regeln.
Dass das Thema Schwangerschaftsabbrüche bei der Personalie Brosius-Gersdorf skandalisiert wurde, hat laut dem Historiker Weiß auch einen strategischen Hintergrund. "Das ist im Osten kein großes Thema, die Neurechten erhoffen sich im Westen aber, damit an den katholisch-konservativen CDU-Kern heranzukommen."
Reaktion der SPD
Entgegen Aufforderungen aus der Union hält die SPD an ihren Kandidatinnen fest. "Es ist indiskutabel und zutiefst besorgniserregend, dass Kandidaten durch gezielte und gesteuerte Kampagnen von Rechts durch Falschbehauptungen beschädigt werden sollen, und versucht wird auf Wahlen im Deutschen Bundestag Einfluss zu nehmen", sagte SPD-Fraktionsvorsitzende Sonja Eichwede der dpa.
Fraktionschef Matthias Miersch gab den Abgeordneten in einem "Sommerbrief" mit in die Ferien: "Ich gehe davon aus, dass die Unionsführung jetzt den persönlichen Austausch mit Frau Prof. Dr. Brosius-Gersdorf suchen wird. Ich bin zuversichtlich, dass wir dann unsere aktuellen Differenzen überwinden und uns wieder gemeinsam unseren Zielen widmen können." Eichwede erinnerte daran, dass beide SPD-Kandidatinnen und ein Unionskandidat "mit großer Mehrheit" vom Wahlausschuss des Bundestags gewählt worden seien - "insgesamt drei sehr gute Vorschläge".
Unterschriften pro und contra
Einer Mailaktion zur Verhinderung Brosius-Gersdorfs setzen Unterstützer eine Petition zu ihren Gunsten entgegen. Die Vorsitzende des antifaschistischen Vereins "Omas gegen Rechts", Anna Ohnweiler, startete die Petition, die innerhalb weniger Stunden 50.000 Unterschriften geknackt habe. "Jetzt ist die Zeit, gesellschaftliches und politisches Rückgrat zu zeigen", sagte Ohnweiler.
Die Organisation 1000plus nimmt für sich in Anspruch, Brosius-Gersdorf mit 38.000 E-Mails an Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU gestoppt zu haben. Auf der Webseite des abtreibungskritischen Netzwerks heißt es, diese Mails von Unterstützern und Spendern seien nach "zuverlässigen Informationen" ausschlaggebend gewesen. Gestartet worden sei die Aktion durch Aktion per Newsletter, sagte Geschäftsführer Kristijan Aufiero der dpa./bw/DP/jha