BERLIN (dpa-AFX) - Nur wenige Zeitungsseiten im deutschen Journalismus haben so oft Reaktionen hervorgerufen wie die Titelseite der "taz" - mal empört, mal begeistert, oft schmunzelnd. Über Jahrzehnte war sie Spielwiese und Sprachrohr zugleich, mit pointierten Schlagzeilen wie "Black Lives Matter", "Deutschland wählt Opa gegen Links" (nach der Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler) oder "Es ist ein Mädchen" (nach Angela Merkels erstem Wahlsieg). Am Freitag erscheint sie zum letzten Mal werktäglich auf Papier.
Ab Montag, 20. Oktober, setzt die linke Tageszeitung unter der Woche auf digitale Formate - E-Paper und Online-Berichterstattung. Die samstags erscheinende "wochentaz" wird weiterhin gedruckt verfügbar sein.
"Wir machen es aus einer Position der Stärke raus, wir stellen um, weil wir umstellen können und nicht, weil wir in einer Krise wären", sagte Chefredakteurin Barbara Junge der Deutschen Presse-Agentur. "Qualitätsmedien sind in dieser kritischen gesellschaftlichen Situation unverzichtbar, sie sind Teil und Stütze der demokratischen, antifaschistischen Kultur."
Die Entscheidung markiert das Ende eines Kapitels in der Geschichte der Zeitung, die seit ihrer Gründung 1978 eine feste Größe im linken Medienspektrum ist. Viele Leserinnen und Leser hätten die "taz" zuerst wegen ihrer Seite 1 gefeiert, erklärt Junge. "Jetzt kommt auf uns die Herausforderung zu, diese Schärfe, diesen Witz auf taz.de zu übertragen."
Titelseiten sollen Markenzeichen bleiben
Bekannte Titelbilder sollen Markenzeichen bleiben. "Ich denke an den Titel "Es gab keinen Mops" mit einem extra großen Mops als Bild", erzählt Katrin Gottschalk, der dpa. "Nach den Ausschreitungen in Chemnitz behauptete Michael Kretschmer vor dem sächsischen Landtag, es habe keinen Mob gegeben. Dieser Titel ist tazzig, weil er mit Humor die Realität verdaubar macht." Solche Titel wolle man weiter machen - von montags bis freitags im ePaper und im Netz.
Verlage und Redaktionen diskutieren seit Jahren, wie lange sich gedruckte Zeitungsausgaben lohnen werden und wie lange es Bedarf bei Leserinnen und Lesern geben wird. In den vergangenen Jahren haben Medienhäuser ihre digitalen Angebote ausgebaut.
Der Schritt der "taz", hinter der eine Genossenschaft steht, zeichnete sich schon länger ab. Seit November 2022 gibt es eine samstags erscheinende Wochenzeitung. Diese wird weiterhin in gedruckter Form erscheinen. Sie liegt eine Woche lang zum Verkauf aus und hatte zugleich die Wochenendausgabe der Tageszeitung ersetzt.
Tagesaktuelle Inhalte verbreitet die Zeitung mit Hauptsitz in Berlin künftig vor allem über die Website. Dort setzt das Zeitungshaus anders als andere Verlage nicht auf eine Paywall. Die Inhalte sind kostenfrei. Parallel dazu gibt es ein Solidaritätsmodell, bei dem Nutzer entscheiden können, ob und wie viel sie für die Inhalte zahlen wollen.
Die "taz" setzt auf ein genossenschaftliches Modell mit rund 23.000 Mitgliedern und freiwilligen Zahlungen der Leserinnen, statt auf klassische Erlöse durch Anzeigen. "Wir haben nie auf die Generierung von Inhalten für Suchmaschinen gesetzt, sondern auf gezielte Berichterstattung aus linker Perspektive. Diese ist online noch erfolgreicher als gedruckt", sagt Gottschalk. Die Website erreicht inzwischen über 15 Millionen Besuche im Monat, die Zahl der Unterstützerinnen über das Modell "taz zahl ich" liegt bei mehr als 45.000.
Die Umstellung auf digitale Formate erfolgte bewusst und schrittweise. Laut Geschäftsführerin Aline Lüllmann haben bereits 59 Prozent der Print-Abonnentinnen den Wechsel zum E-Paper akzeptiert. "Wir merken deutlich, dass unsere jahrelange Kommunikation zu diesem Thema Früchte trägt", sagt sie der dpa. Es gebe kaum noch Leserinnen und Leser, die mit Empörung reagieren, dafür eher mit Enttäuschung und Abschiedsschmerz.
Veränderung ohne "Verlust der publizistischen Seele"
Die Redaktion will trotz des Endes der werktäglichen Printausgabe bestehen bleiben. Arbeitsabläufe sollen angepasst werden, gleichzeitig bleibt das Redaktionsteam unverändert. "Wir möchten vor allem zeigen, dass Veränderung in der aktuellen Medienlandschaft auch möglich ist, ohne die publizistische Seele zu verlieren", so Lüllmann.
Die letzte Printausgabe soll zehn exklusive Beiträge enthalten - von Autorinnen wie T.C. Boyle, Francesca Melandri, Fatma Aydemir, Sibylle Berg und Feridun Zaimoglu. Kreativ gestaltet wird sie von dem Künstler Christian Jankowski, der die Redaktion, den Verlag und die Druckerei in Szene setzt. Für die erste digitale Ausgabe am 20. Oktober gestaltet die Künstlerin Kerstin Brätsch eine Arbeit in Digitalmalerei.
Der Schritt könnte ein Signal für die Branche sein. "Wir hören öfter den freundlichen Hinweis, dass wir so etwas wie der Beta-Test der Branche seien", sagt Lüllmann. "Wir würden es begrüßen, wenn auch andere Medienhäuser eigene, tragfähige Lösungen finden. Eine vielfältige und ausdifferenzierte Medienlandschaft ist essenziell für eine lebendige Demokratie."/svv/DP/zb