
19.05.2023 - Die Dosenravioli feiern ihren 65. Geburtstag. Der Legende nach verhalf die "kulinarische Bankrotterklärung" in den späten 1950er, frühen 1960er Jahren den Frauen zur Emanzipation. So ermöglichte ihnen das Dosenfutter aus der Blechdose, einer bezahlten Arbeit nachzugehen und abends warmes Essen auf den Tisch zu bringen. Mir ist aber nicht überliefert, wie dies in der Realität ausgesehen hat. Dosenravioli von Montag bis Freitag?
Wochenlang immer das gleiche Essen könnte mit der Zeit auf den Magen schlagen. So wie an der Börse:
Wochenlang die gleichen Kurse führen irgendwann zum Volatilitätsschock, so das gängige Narrativ. Tatsächlich befanden sich der S&P 500 und der DAX sieben Wochen lang im "Ravioli-Modus": Jeden Tag das gleiche.
Die gesamte Handelsspanne (in Bezug auf den jüngsten Schlusskurs) betrug bis zum Mittwoch dieser Woche in beiden Indizes gerade einmal 3,7 Prozent. Über einen Zeit-raum von fünf Wochen schwankte der DAX sogar nur um 2,2 Prozent - so schmal war sein Handels- band zuletzt im Sommer 1996.
Aber was ist dran an der Behauptung, Seitwärtsphasen würden in einen kräftigen Kursausbruch münden?
Zur Beantwortung dieser Frage untersuche ich, auf welche Weise sich ähnlich ruhige Marktphasen in der Vergangenheit aufgelöst haben. Als Kriterium für ruhige Märkte" verwende ich die erwähnten Parameter einer maximalen Handelsspanne von 3,7 Prozent über einen Zeitraum von sieben Wochen. Untertägige Kursausschläge werden dabei berücksichtigt.
Für den S&P 500 finde ich seit der Jahrtausendwende zwanzig, für den DAX fünf Phasen "ruhiger Märkte". In der Mehrzahl der Fälle lösen sich diese Episoden ganz unspektakulär auf, indem die Kurse ohne außergewöhnliche Sprünge ihr Handelsband peu à peu nach oben oder unten verlassen. Es gibt aber Ausnahmen: Der S&P 500 stieg drei Mal nach Erreichen der oben genannten Kriterien innerhalb weniger Tage um mindestens zwei Prozent an, drei Mal ging es um rund vier Prozent bergab. Der DAX schaffte es in keiner Episode spürbar anzusteigen, zwei Seitwärtsphasen mündeten in einen Ausverkauf mit Kursverlusten von vier bzw. acht Prozent.
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Was nehmen wir aus dieser - zugegebenermaßen sehr speziellen - Untersuchung mit? Meistens beschreiben sehr schwankungsarme Episoden an den Aktienmärkten nicht die Ruhe vor dem Sturm. Kommt es jedoch zu einem Sturm, bläst insbesondere beim DAX der Wind von vorne, das heißt es kommt zu Kursverlusten.
Just die aktuelle Episode schickt sich nun an, mich Lügen zu strafen: Am Himmelfahrtstag brachen sowohl der S&P 500 als auch der DAX aus ihren engen Handelsbändern nach oben aus. Der DAX markierte im Verlauf des Freitags sogar ein neues Allzeithoch oberhalb von 16.300 Punkten.